Aktuell sind die deutsch-russischen, die europäisch-russischen, ja die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland vor allem durch eines charakterisiert: Stillstand auf allen Ebenen. Kanäle, wie der NATO-Russland Rat oder die OSZE, die einst den Austausch und den Dialog auch über strittige Punkte gewährleisteten, sind ebenso verstummt wie viele andere offizielle und halb-offizielle Formate auf multi- und bilateraler Ebene.
Es gibt viele Themen, in denen wir unterschiedliche Auffassungen vertreten. Und in vielen Fragen ist es unwahrscheinlich, dass wir so schnell zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Und trotzdem werden und wollen wir friedlich zusammen leben und immer wieder versuchen, unsere bestehenden kleinen und großen Differenzen zu überwinden. Die deutsche Auslandshandelskammer in Russland und das Deutsch-Russische Forum e.V. sind mit ihrer Arbeit dabei unermüdliche Partner.
Die Welt durchläuft einen fundamentalen, tiefgreifenden Wandel – und steht vor gewaltigen Herausforderungen, die nur durch die internationale Zusammenarbeit gelöst werden können: der die Menschheit bedrohende Klimawandel, die Zunahme an Flucht und Vertreibung aufgrund von Krieg, Bürgerkrieg oder bitterster Not und Armut, der Kampf gegen Terroristen – seien es Islamisten oder Rechtsradikale – und nicht zuletzt die Verhinderung der weiteren Ausbreitung von Atomwaffen auf der Welt. Nichts davon kann ohne die Bereitschaft zur Zusammenarbeit gelöst werden. Diese Herausforderungen sind von einer Größenordnung, die kein Land allein bewältigen kann – Russland nicht, Deutschland nicht, aber auch nicht Europa oder der Westen. Klar ist auch: Diese Herausforderungen lassen sich auch nicht mit Waffengewalt oder einem neuerlichen atomaren Wettrüsten meistern. Das waren auch in der Vergangenheit nicht die besten Mittel, Konflikte zu bewältigen.
Wir müssen also trotz – und eben nicht nur wegen – unserer Differenzen Wege finden, der Falle des Nullsummenspiels gegenseitiger Vorwürfe zu entgehen. Wir müssen den Mut aufbringen, neue Plattformen zu finden, um aus der Sackgasse der Sprachlosigkeit zu finden. Wir müssen uns trauen, neue Brücken zu bauen.
Dabei kommt dem Deutsch-Russischen Forum e.V. und der Auslandshandelskammer mit Ihren Mitgliedern und ihrem Engagement für den Dialog und wirtschaftliche Beziehungen eine ganz besondere Rolle zu. Ihre Formate des gegenseitigen Austausches, und die Nachhaltigkeit der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen tragen dazu bei, dass der Austausch zwischen Deutschland und Russland nicht vollständig zum Erliegen gekommen ist.
Wenn wir aber Brücken in die Zukunft bauen wollen, in der Hoffnung unsere Differenzen in anderen Fragen in der Zukunft lösen zu können, aufzugeben, dann müssen wir auch bereit sein, unsere wohlbekannten Pfade zu verlassen. Wir müssen in neuen Verbindungen denken, und den Rahmen erweitern.
Deutschland hat in seiner Nachkriegsgeschichte häufig auf zwei Schultern getragen, und war dabei auf friedlichen Ausgleich bedacht. Das gilt im euro-atlantischen Kontext ebenso wie in der Frage der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Diese Rolle war oft umstritten, und verlangte auch das Durchhalten schwieriger Positionen gegenüber beiden Seiten.
Deutschland, Russland, Europa, die USA, der Westen – für alle Beteiligten ist der aktuelle Zustand unserer Beziehungen kontraproduktiv. Auf mittlere und lange Sicht haben wir alle weit mehr zu verlieren, als zu gewinnen, wenn es uns nicht gelingt, einen Ausweg aus der Ausschließlichkeit der gegenseitigen Vorwürfe zu finden. Dieser Weg wird nicht leicht sein – und man wird, wie bei allen neuen Wegen, zunächst einmal behutsam Schritt für Schritt gehen müssen bis man eine gewisse Trittfestigkeit erlangt hat. Aber diesen ersten Schritt wagen – je länger wir warten, desto schwerer wird es uns erscheinen, denn: „Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“(Seneca)
Sigmar Gabriel, Bundesminister a.D., Vorsitzender der Atlantik Brücke