„Religion im 21. Jahrhundert – Sinnstifter, Wertekompass oder Störenfried?“
Am Abend des 11. Aprils 2018, fanden die zweiten Moskauer Gespräche des Jahres im Fotozentrum der Brüder Lumière statt. Es diskutierten Prof. Dr. Olga Litzenberger, Historikerin und Expertin für die Geschichte des Luthertums in Russland, Dr. Karlies Abmeier, Leiterin des Teams Religions-, Integrations- und Familienpolitik der Konrad Adenauer Stiftung, und Dr. Tichomirov, Theologe und Pfarrer der lutherischen Gemeinschaft der Heiligen Katharina (Sankt Petersburg). Die Moderation leitete Andreas Stopp, Leiter der Medienredaktion beim Deutschlandfunk.
Religion und Kirchen in Deutschland und Russland sehen sich in der aktuellen Realität mehr und mehr mit gesellschaftlichen und politischen Problemen konfrontiert. Während einerseits mehr Verantwortungsbewusstsein sowie politisches Engagement von den Kirchen gefordert wird, so werden andererseits konträr dazu Religion als vermeintliche Unruhestifter und Ursache vieler Problematiken identifiziert.
Dabei sind zwischen Deutschland und Russland durchaus Unterschiede zwischen den Räumen, die der Religion und Kirche zugesprochen werden, festzustellen. Während in Deutschland eine gewisse Marginalisierung von Religion und Kirchen zu verzeichnen war, so kam es in Russland zu einer Neuentdeckung von Religion und einer wachsenden Dominanz der russisch-orthodoxen Kirchen im zivilgesellschaftlichen und politischen Raum.
Unabhängig davon, welcher Religion und Kirche man angehöre, im Vordergrund stünden grundlegende, gemeinsame, geteilte Werte, so Dr. Abmeier. Die Menschenwürde, der Schutz Lebens und die Nächstenliebe seien religionsübergreifend dominant. Religion sei in dem Sinne sinnstiftend, dass sie Fragen nach diesen Werten behandle. Dabei rücke Religion nicht nur allein in Krisenzeiten in den Vordergrund, sondern spiele auch in Zeiten der Freude eine tiefergreifende Rolle im Prozess der intersubjektiven Sinnstiftung und Wertefindung. Hinzu komme, dass Religion und Kirchen durchaus auch politisch aktiv sein dürften und müssten. Im Sinnstiftungsprozess könne Religion auch nicht durch Philosophie und Ethik ersetzt werden, so Dr. Tichomirow. Religion gehe deutlich tiefer und sei auch die Rückbindung an etwas Transzendentes, ergänzte Dr. Abmeier den Gedanken.
Mit Blick auf die nahe Zukunft stünden Religion und Kirchen insbesondere vor der Aufgabe, ein zielgruppengerechtes Angebot anzubieten. Religion biete Suchenden einen Ort der Stille, so Dr. Tichomow. Ob das den modernen, sich wandelnden Ansprüchen genüge, sei fraglich. Prof. Dr. Litzenberger sieht in den kommenden Jahren eine verstärkte Zuwendung und Orientierung der russischen-orthodoxen Kirche an traditionellen Werten voraus. Da Religion und Glaube eine Entscheidungssache sei und der Mensch stets auf der Suche sein werde, werde es auch immer Kirchen geben. Dabei sei der Mensch bei seiner Entscheidung vom Pragmatismus geleitet und wende sich bei seiner Wahl dem attraktiveren Angebot zu, so Dr. Abmeier.
In Deutschland, einem säkularen Staat, spiele Religion eine stetig wachsende Rolle in der Bildungspolitik. Die Thematik des islamischen Religionsunterrichts und die Frage nach der Entscheidungsfreiheit würden vielfach diskutiert. Trotz Verfassungsgarantie für Religionslehre in der Mehrheit der deutschen Bundesländer werde gestritten. Auch in Russland liefere der Umgang mit dem Religionsunterricht in den Schulen eine Menge Diskussionsbedarf, da die Lehre der russisch-orthodoxen Kirche die anderen Religionsströmungen dominiere. Dies sei auch ein genereller Trend, der in Russland zu beobachten sei, so Prof. Dr. Litzenberger. Andere Religionen erführen eine Marginalisierung in ihrer Bedeutung und ihrem Einfluss in Russland. So litten insbesondere die Zeugen Jehovas unter Repressalien. Auch die evangelisch-lutheranische Kirche in Russland habe mit vielen Vorurteilen zu kämpfen, so Prof. Dr. Litzenberger.
Die Diskussionsrunde wurde durch viele Anmerkungen aus dem Publikum bereichert. Besonders die Frage des Religionsunterrichts fand deutliche Resonanz. So kam die Forderung nach einer Erweiterung des Unterrichtsangebotes in Russland auf, verbunden mit einer absoluten, garantierten Freiheit in der Wahl der Religion als Unterrichtsfach. Ferner wurde die Frage kontrovers debattiert, wie Religion und Kirchen sich gegenüber der Anerkennung und den Rechten homosexueller Paare zu positionieren haben. Hier wurde eine zeitgemäße Einstellung gefordert. Einig war man sich an diesem Abend in dem Punkt, dass Religion eine Quelle der Geborgenheit sei. Andreas Stopp schloss mit einem Zitat von Heinrich von Kleist: „Ein freier, denkender Mensch bleibt nicht da stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Bessern“ (1799).
Im Anschluss wurden die Themen von den Gästen sehr rege und intensiv bei einem Glas Wein weiter diskutiert.