Dankesrede von Daniil Alexandrowitsch Granin anlässlich der Verleihung des Dr.-Friedrich-Joseph-Haass-Preises 2016
An erster Stelle möchte ich mich beim Deutsch-Russischen Forum für den Friedrich-Haass-Preis bedanken. Er ist für mich in zweierlei Hinsicht wertvoll. Erstens, weil Friedrich Haass in der Geschichte der russischen Wohltätigkeit einen herausragenden Platz einnimmt. Er gehört zu jenen Deutschen, die für Russland die besten Eigenschaften des deutschen Humanismus verkörpern. Jeder Mensch ist, so oder so, auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens. Für mich liegt eine der Antworten auf diese quälende Frage in dem Wort „Mitgefühl“. Dr. Haass‘ gesamtes Leben war diesem Gefühl geweiht. Er wählte für sich jenen Raum aus, in dem das Mitgefühl am meisten vernachlässigt war – das Gefängnis in einem anderen Land, in Russland. Es gibt eine Art tief verborgener Verbindung zwischen den Deutschen und Russen, die quer durch alle Schichten verläuft, vom herrschenden Haus der Romanows bis zur Akademie der Wissenschaften, von Leonhard Euler bis hin zu den Wolgadeutschen.
Zweitens: Meine Generation hat unterschiedliche Deutschlands kennengelernt. Wir lernten die Sprache in der Schule und rezitierten Goethe. Wir sahen uns Stücke aus dem Brecht’schen Theater an. Deutsche Backstuben waren uns genauso vertraut wie Otto Schmidt und Roerich. Wir kannten Deutschland – seine Musik, seine Lieder, seine Gelehrten – besser als so manches andere Land. Dann lernten wir das Deutschland Adolf Hitlers kennen. Der Krieg hat viele meiner Vorstellungen verändert. In den vier Jahren Krieg lernte ich die Deutschen hassen. Für mich sind damals alle Deutschen zu Faschisten und Feinden geworden. In unserer Jugend waren die Feinde – die Kapitalisten, Schädlinge und Kulaken, aber kein Volk. Wir hatten kein Volk zum Feind. Nach dem Krieg bin ich 1945 nach Deutschland gekommen. Ich marschierte durch Berlin wie ein Soldat. Alle Männer, die mir entgegenkamen, waren für mich feindliche Soldaten. Hier trafen Männer aufeinander, die vorbeigeschossen hatten.
Ich brauchte lange, um meinen Hass zu überwinden, und es fiel mir sehr schwer. Von Liebe zu Hass ist es nur ein Schritt. Vom Hass zur Liebe aber ist es ein langer, schwer zu bewältigender, mit Granattrichtern übersäter Weg. Mir half die Freundschaft zu solchen Schriftstellern wie Christa Wolf, Heinrich Böll und Konrad Wolf. Zu dem ehemaligen Soldaten Ferdinand Thun und seiner Familie, zu Leo Kossuth. Es wurden immer mehr. Es entstanden wahre Freundschaften, keinen Deut schlechter als die zu Hause. Sie kamen zu mir, sie mochten Petersburg, gemeinsam besuchten wir den deutschen Soldatenfriedhof in Staraja Russa, und gemeinsam besuchten wir auch die Gräber der Blockadeopfer.
Zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, dass es der vergangen Krieg war, der mich vielen Deutschen näherbrachte. Das gilt in erster Linie für diejenigen, die bei uns in Gefangenschaft waren. Das Leben irgendwo in der Provinz zeigte ihnen das Mitgefühl unserer Menschen, die dafür sorgten, dass sie nicht verhungerten. Kleine Geschenke, ein Handschuh oder Wollsocken, ließen ihre Seelen auftauen. Sie erfuhren, wie viel Güte es in Russland gibt. Hass ist eine emotionale Sackgasse. Er trägt keine Zukunft in sich und nichts, was gut wäre – Güte, Freundschaft oder ein erfüllendes Tagwerk.
In Petersburg gibt es viele Denkmäler für Deutsche, die den Ruhm unseres Landes gemehrt haben, Barclay de Tolly, Krusenstern und Euler, um nur einige zu nennen. Ein Meyerhold, ein Schnittke, eine Alissa Freindlich, ein Rauschenbach sind aus der modernen russischen Kultur nicht wegzudenken. Es mag erstaunlich klingen, aber in dieser hartherzigen und verbitterten Welt sind uns die Deutschen jetzt nähergekommen, und das ist für Russland und Deutschland wertvoller als je zuvor.