Die 15. Potsdamer Begegnungen fanden in diesem Jahr unter dem Leitthema »Die Zukunftswirkung der Vergangenheit« statt. Diskutiert wurden kultur- und geschichtswissenschaftliche Thematiken von hoher aktueller Relevanz. Neben Vertretern aus Politik, Wirtschaft und den Wissenschaften beteiligten sich auch namhafte Schriftsteller und Journalisten an den angeregten Gesprächen. Hervorzuheben ist vor allem der hohe Anteil engagierter junger Teilnehmer an den diesjährigen Begegnungen.
Das Diskussionsprogramm mit drei sich ergänzenden Diskussionsrunden zu Fragen nach dem nationalen Selbstverständnis und der Rolle der Geschichte zur Bildung desselbigen, nach historischen Bildern, die das Bewusstsein der russischen und deutschen kollektiven Identitäten prägen, und nach den Lehren, die wir für die Zukunft aus der Geschichte ziehen können, wurde ergänzt durch zwei Lesungen namhafter zeitgenössischer russischer Autoren. Ljudmila Ulitzkaja las einen Ausschnitt aus ihrem Werk »Das grüne Zelt«, einem Roman, der sich mit Dissidenz in der Sowjetunion beschäftigt. Auch Viktor Jerofejew gab sich die Ehre und las aus seinem neuen Roman »Akimudy«, einer utopischen Horrorgeschichte über ein fiktives Land, das eine Botschaft in Moskau eröffnet. Der Autor präsentierte dieses Werk zum ersten Mal in Deutschland. Zu diesem Anlass las er eine Episode, die von einer Reise in den Iran erzählt. Das Kapitel trägt den zu der Potsdamer Konferenz passenden Titel »Die Zukunft der Vergangenheit«. Jerofejew zeichnet eine düstere Zukunftsvision für die russische Nation am Beispiel Teherans. Die Menschen verwandeln sich in vermummte schwarze Schatten, die unter der eisernen Hand der Diktatur betrogen werden und zu Betrügern ihrer selbst werden. Auf Deutsch soll der Roman noch in diesem Jahr erscheinen.
Laura von Wangenheim präsentierte ihr Fotobuchprojekt »In den Fängen der Geschichte« mit Illustrationen aus dem Alltag der dreißiger Jahre in der Sowjetunion. Das Projekt ist das Ergebnis aufwändiger Spurensuche in der Familiengeschichte Wangenheims. »In den Fängen der Geschichte« dokumentiert aus unmittelbarer Nähe die Phase des gesellschaftlichen Aufbruchs aus den Augen deutscher Exilanten. Diese künstlerischen und kulturhistorischen Beiträge fügten sich bestens in den Themenkomplex der Konferenz ein, die von Staatssekretärin Dr. Haber treffend mit einem Zitat von Wilhelm von Humboldt eingeleitet wurde: »Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.« Lediglich ein unverstellter Blick und ein ehrliches Interesse füreinander machen eine Partnerschaft möglich, betonte Haber. Berater des Präsidenten Michail Fedotow ergänzte diese einführenden Worte mit der Betonung der Wichtigkeit der Versöhnung und Verständigung zwischen Deutschland und Russland. Dies müsse die Grundlage für ein gemeinsames Europa bilden, einer europäischen Wertegemeinschaft von Ozean bis Ozean, von Großbritannien bis Wladiwostok. Dr. Seele von Wintershall Holding sprach sich für die Notwenigkeit einer Freihandelszone zwischen Russland und Europa aus. Der Blick dürfe nicht einseitig nach Westen gehen, denn »es kann nicht im Interesse Europas sein, dass Russland sich nach Asien abwendet«.
Einen zentralen Programmpunkt stellte das Gespräch mit Bundespräsident Joachim Gauck im Schloss Bellevue dar. In herrschaftlicher Atmosphäre fand man sich zusammen, um über die deutsch-russische Partnerschaft zu sprechen. Bundespräsident Gauck betonte die im gemeinsamen Dialog nicht außer Acht zu lassende schwierige Vergangenheit, die sowohl Russland als auch Deutschland durchlebten. Die Aufarbeitung des Erbes der Zeit schrecklicher Diktaturen stelle uns vor große Herausforderungen. In der Auseinandersetzung mit der Schuld und im Bewusstsein derselben könnten vor allem Trauer und Scham helfen. Denn die Vergangenheit sei nicht vergangen. Sie trete, wenn wir nicht die richtigen Lehren aus ihr zögen, immer wieder ein. Ein Geschichtsbild ohne Mythen sei daher vonnöten. In diesem Zusammenhang würdigte Gauck vor allem das Engagement von Memorial, deren Arbeit im Zuge des NGO-Gesetzes denunziert und kriminalisiert worden sei. Auf die Warnung Prof. Sergej Karaganows, Dekan der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik an der Hochschule für Ökonomie, vor deutscher Arroganz im Umgang mit Russland erwiderte Gauck, er hoffe, es sei damit nicht das gegenwärtige Gespräch gemeint. Denn das Sprechen über eigene Erfahrungen dürfe nicht als Arroganz verstanden werden. Um zu einer Erkenntnis zu gelangen sei es notwendig, Vergleiche mit anderen Erfahrungen zu ziehen. Das Prinzip der Nichteinmischung, wenn es um die Frage universeller Menschenrechte geht, teile Deutschland nicht.
Man hatte sich viel vorgenommen mit dem schwierigen Thema der Vergangenheitsaufarbeitung. Schwierig nicht nur, weil man damit in alten Wunden der kollektiven Schuld bohrte und das sensible und leicht angreifbare nationale Identitätsbewusstsein reizte, sondern auch und vor allem aufgrund der unterschiedlichen Erinnerungskulturen. Leichter hatte man es mit allgemeingültigen Fragen wie der nach der Geschichte und ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft an sich. Wenn man sich auch nicht einig war, so fand man wenigstens eine gemeinsame Sprache. Zwei Tendenzen dominierten die Diskussion: Prof. Karaganow rief mit seiner Äußerung über die Notwendigkeit zweier unterschiedlicher Geschichten eine Kontroverse hervor. Einerseits brauche man eine positive Geschichte zur patriotischen Formung des Volkes, eine Geschichte der Siege, andererseits eine »wahre« Geschichte, die der Intelligenzija vorbehalten bleibt, »wo auch die Wahrheit gesprochen werden soll«. Die Verfechter einer »objektiven« Geschichte, die forderten, man müsse dem Volk die Wahrheit sagen, allen voran Alla Gerber, die Präsidentin der Holocaust Stiftung, und die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, wehrten sich entschieden und heftig gegen die Äußerungen Karaganows. Jegliches emotionales Moment aus der Geschichtsforschung müsse getilgt werden. Es müsse eine Geschichte geben, die sich auf Zahlen, Fakten und konkrete Ereignisse stütze. Ihnen gegenüber standen jene, die Geschichte als eine Form der Darstellung verstehen. »Geschichte ist ein Pfand der Politik und umgekehrt«, erklärte Prof. Tschubarjan, Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Die Vergangenheit werde immer im Interesse bestimmter Ziele benutzt. Es sei daher unabdingbar die nationale Historie als Teil der Weltgemeinschaft zu sehen. Um ein besseres Verständnis füreinander zu entwickeln und auch der Wahrheit ein wenig näher zu kommen, sei eine Darstellung der »Sicht der Anderen« in den Lehrbüchern ein anzustrebendes Ziel. Man suche auch nach Analogien und ähnlichen Wegen in der Geschichtsschreibung anderer Länder.
Historiker Dr. Bonwetsch argumentierte, dass die Konstituierung von Gemeinschaften nur durch positive Erinnerungsbilder möglich sei. An dieser Stelle stellte sich die Frage nach der deutschen nationalen Identität, die ihr Bewusstsein aus der eigenen Schuld heraus schöpft. Anstatt positiver Erfahrungen präge in Deutschland das Bekenntnis der Schandtaten das nationale Selbstverständnis. Während Bojan Krstulovic, Redakteur der Moskauer Deutschen Zeitung, dieses Geschichtsverständnis als unnatürlich wahrnimmt und Zweifel äußerte, dass es für längere Zeit aufrechtzuerhalten sei, warnt Prof. Schulze Wessel, dass »eine Kultur des Sieges immer auch die Gefahr der Verblendung birgt«. Nur die Auseinandersetzung mit der Niederlage sei eine Chance zum Lernen. Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Deutsch-Russischen Forums Martin Hoffmann sieht das ähnlich. Deutschland ziehe eine positive Stärke daraus, sich selbst kritisieren zu können. Niederlagen müssen, so Hoffmann, in einen positiven Gesamtkontext eingebunden werden. Doktorandin der Universität Passau Theresa Lauterbach formulierte ein positives nationales Selbstbild für Deutschland. Dieses konstituiere sich aus einem Verfassungspatriotismus und einer europäischen Wertegemeinschaft, obgleich sie dennoch betont, dass sich auch die junge Generation seinem nationalsozialistischen Erbe stellen müsse. Es sei jedoch weniger eine Frage der Schuld, als eine der Verantwortung. In dieser Verbindung sei auch der erste Artikel des Grundgesetzes zu sehen und das damit verbundene Postulat: »Niemals darf ein Mensch zum Objekt werden!«
Neben den nationalen historischen Identitäten Russlands und Deutschlands stellte sich auch die Frage nach Europa. Wegweisend waren hier die Ausführungen von Prof. Rutz. Noch habe man den Bundesstaat Europa nicht geformt, aber über kurz oder lang müsse man sich von der Idee der Nationalstaaten lösen, die eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und in unserer gegenwärtigen Realität nicht mehr haltbar sei. Von einer gemeinsamen europäischen Geschichte seien wir in einem »Europa der Vaterländer« noch weit entfernt. Durch den identitätskonstituierenden Faktor der Geschichte, sei der Weg zu einer gemeinsamen europäischen Identität noch ein langer und steiniger. Dr. Ernst-Jörg von Studnitz wies jedoch auf die uns einende Wertegemeinschaft hin, die, wenn auch nicht weltweit anerkannt, eine Basis in der westlichen Welt für Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und der Demokratie bilde. Auch Russland bekennt sich zu dieser Wertegemeinschaft. Denn, so zitiert Dr. Konstantin Asadowskij den russischen Schriftsteller und Historiker Nikolai Karamsin: »Die Zukunft Russlands ist Europa.«
Text: Diana Klie
Bilder: KD Busch, © Deutsch-Russisches Forum e.V.