Der Dr. Friedrich Joseph Haass-Preis für deutsch-russische Verständigung wird seit 1994 verliehen und ist benannt nach dem deutschen Arzt aus Bad Münstereifel, der sich im 19. Jahrhundert selbstlos für Häftlinge und Verbannte in Russland einsetzte. Mit der mit 5.000 Euro dotierten Auszeichnung ehrt das Deutsch-Russische Forum e.V. alljährlich Persönlichkeiten, die sich in besonderer Weise um die deutsch-russischen Beziehungen verdient gemacht haben. Unter den Ausgezeichneten befinden sich u.a. Prof. Dr. Egon Bahr, Bundesminister a.D. und Michail Gorbatschow, Staatspräsident a.D.
In diesem Jahr ehrt das Deutsch-Russische Forum e.V. Prof. Dr. Michail Fedotow, Professor an der Juristischen Fakultät, Forschungsuniversität „Higher School of Economics“ (HSE), mit dem Preis. Im Interview spricht er darüber, was ihm der Preis bedeutet und welche Rolle der zivilgesellschaftliche Austausch in den deutsch-russischen Beziehungen spielt.
Herr Fedotow, Sie erhalten in diesem Jahr den Dr. Fridrich Joseph Haass-Preis, der jährlich herausragenden Persönlichkeiten für ihr Engagement für die deutsch-russischen Beziehungen verliehen wird. Was bedeutet ihnen diese Auszeichnung?
Als ich von der Entscheidung des Deutsch-Russischen Forums e.V. erfuhr, mich mit dem Haass-Preis auszuzeichnen, war ich sprachlos. In diesem Ereignis vereinen sich für mich die große Mission des heiligen Doktors Haass an, der in Russland einfach verehrt wird, auch wenn er hier nicht Friedrich Joseph, sondern Fjodor Petrovitsch genannt wird, und meine langjährige Freundschaft mit dem Deutsch-Russischen Forum und meine Dankbarkeit für die deutsche Hochschulausbildung, die meiner Tochter eine erfolgreiche berufliche Karriere in Russland ermöglichte. Und als ich die Namen der früheren Preisträger dieses einzigartigen Preises erfuhr, begriff ich, dass mich das Schicksal nicht auf die „Ehrentafel“, sondern zum „Ehrengipfel“ geführt hat.
Gemeinsam mit Dirk Wiese, MdB, Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft, Auswärtiges Amt koordinieren Sie die AG Zivilgesellschaft des Petersburger Dialogs. Wie bewerten Sie die Rolle des zivilgesellschaftlichen Dialogs im Spannungsfeld mit der großen Politik?
Ich arbeite gerne mit Dirk Wiese zusammen: Er ist jung, energisch, positiv und engagiert sich für eine konstruktive zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern. In meiner Erfahrung ist er bereits der dritte Co-Vorsitzende unserer Arbeitsgruppe von deutscher Seite. Vor ihm waren Andreas Schockenhoff und Gernot Erler meine Mitstreiter. Und mit jedem von ihnen habe ich eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Werte und damit gemeinsame Ziele gefunden. Manchmal wurde unsere Arbeit durch verschiedene politische Persönlichkeiten verkompliziert, deren unerwartete Konfrontationsschritte oder Aussagen uns wahrlich in Verwirrung gebracht haben. Aber wir versuchten, ihnen so viel Aufmerksamkeit zu schenken, wie sie verdienten, und setzten dabei unsere Bemühungen fort, die Zusammenarbeit zwischen den zivilgesellschaftlichen Strukturen in unseren Ländern zu stärken.
Inwieweit hat sich die deutsch-russische Diskussionskultur seit der politischen Krise 2014 geändert? Wo sehen Sie Verbesserungsbedarf?
Natürlich haben die Ereignisse vom Frühjahr 2014 den politischen Hintergrund für einen konstruktiven Dialog zwischen unseren Ländern erheblich verschlechtert. Aber es hat hauptsächlich die Politiker betroffen. Im Gegenteil, die Aktivisten der Zivilgesellschaft haben den Dialog nie abgebrochen und betonen, dass vor allem in schwierigen Zeiten die Fähigkeit und der Wunsch, einander zuzuhören, besonders wichtig und wertvoll ist.
Gemeinsam mit Dirk Wiese haben Sie im Herbst 2019 einen Gastartikel in der Frankfurter Rundschau mit dem Aufruf für Visa-Freiheit veröffentlicht. Welche Themen im Bereich des zivilgesellschaftlichen Austauschs sollten neben der Visafreiheit in Zukunft noch stärker gefördert werden?
Ein visafreier Austausch zwischen Deutschland und Russland ist nicht nur an sich, sondern als Mittel zur Annäherung unserer Werte wichtig. Meine Großmutter hat mir beigebracht: Um eine gute Suppe zu kochen, muss man sie immer wieder umrühren. Die Visen verhindern die „Umrührung“, d.h. wir müssen sie loswerden. Ein Erfahrungsaustausch über die Entwicklung der Inklusion, die Verhinderung häuslicher und anderer Formen von Gewalt, die Lösung von Migrationsproblemen, die Verbesserung der Mechanismen zum Schutz der bürgerlichen Freiheiten und anderer Menschenrechte trägt ebenfalls zur Bildung gemeinsamer Werte bei.
Sie waren von 2010 bis 2019 Berater des Präsidenten der Russischen Föderation, Vorsitzender des Rates beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Entwicklung von Zivilgesellschaft und Menschenrechten. Zu welchen Themen haben Sie in dieser Funktion Schnittstellen zum deutsch-russischen zivilgesellschaftlichen Austausch erlebt?
Ich habe bereits einige Bereiche der aktuellen Zusammenarbeit im Rahmen der AG Zivilgesellschaft des Petersburger Dialogs erwähnt. Das Thema der historischen Erinnerung und der Überwindung der Versuchungen des totalitären Denkens ist etwas Besonderes. Im letzten Jahrhundert hat die Epidemie des Totalitarismus viele Länder in Europa heimgesucht und den Völkern unsägliches Leid gebracht. In den letzten Jahren hat Russland riesige Schritte unternommen, um die Erinnerung an die Opfer politischer Repression zu verewigen. Und für uns ist die Erfahrung Deutschlands bei der Gestaltung der Kultur des historischen Gedächtnisses sehr wertvoll.