Ein Beitrag von Alexander Rahr
Joe Biden ist kein Freund Moskaus. Vor zehn Jahren kam er als US-Vizepräsident nach Russland, um Vladimir Putin, der damals als Premierminister neben dem Präsidenten Dmitri Medwedew fungierte, zu ermahnen, nicht noch einmal für das Amt des Staatsoberhauptes zu kandidieren. Die USA und EU wollten nämlich den liberaleren Medwedew als russischen Präsidenten erhalten. Für Putin – ein Affront. Biden sagte noch zu Putin: „Ich habe in ihre Augen gesehen, aber dort keine Seele gefunden.“ Biden spielte auf die Aussage des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush an, der über Putin gesagt hatte: „Ich habe ihm in die Augen gesehen und seine Seele empfunden.“ Bush meinte dies als Kompliment, Biden – als Beleidigung.
Heute nennt Biden Russland den gefährlichsten Gegner der USA, kritisiert permanent die mutmaßliche Einmischung Russlands in die US-Wahl 2016. Biden versprach gegenüber Russland „größtmögliche Härte“ zu zeigen. Die Rhetorik des 78jährigen dürfte wohl, nachdem er zum mächtigsten Mann der Welt aufgestiegen ist, weniger rabiat ausfallen. Dennoch kann von einer Annäherung zwischen den beiden Supermächten des 20. Jahrhunderts keine Rede sein. Einzig im Fall des Atomabkommens mit dem Iran, aus dem Donald Trump ausgestiegen war und das Biden wiederbeleben könnte, würde sich eine globale Zusammenarbeit zwischen Washington und Moskau ergeben. Für ein Reset ist das zu wenig.
Dagegen sind Konflikte auf postsowjetischem Territorium vorprogrammiert. Trump war an geopolitischen Kämpfen mit Russland in der Ukraine, Belarus, Moldawien oder dem Kaukasus desinteressiert. Biden könnte Demokratiebewegungen in diesen Ländern wieder unterstützen, egal ob er sich damit dem Vorwurf der Russen vom Anzetteln „orangener Revolutionen“ aussetzen wird. Biden wird zur Politik der „Werte-Orientierung“ in der globalen US-Diplomatie zurückkehren. Bei Trump spielten nationale Interessen die Hauptrolle, bei Biden werden es Menschenrechtsfragen sein.
Bei der „Werte-Orientierung“ wird es zum Schulterschluss Bidens mit der EU kommen. Die NATO dürfte ebenfalls enger zusammenrücken – entlang einer globalen Menschenrechtsagenda. Der Druck auf Russland wird stetig wachsen. Doch auch Biden wird letztendlich erkennen, dass der Ost-West-Konflikt sich längst zu einem Nord-Süd-Konflikt gewandelt hat. China ist für die globale Führungsmacht USA der größere Rivale. Die Welt kann nicht mehr ausschließlich vom Westen geregelt werden: während Bidens Präsidentschaft wird sie sich polyzentrisch entwickeln.