Die Erinnerungen des russischen Botschafters Wladimir Grinin an Berlin und Deutschland
Von Alexander Rahr
Als er sein Buch schrieb, kannte er die letzte Aussage der Bundeskanzlerin noch nicht, dass eine strategische Partnerschaft mit Russland nicht mehr möglich und stattdessen eine neue »Koexistenz« angesagt sei. Aber dieses Statement wird Wladimir Grinin nicht überrascht haben. Mit dem Vokabular aus dem Kalten Krieg hat Angela Merkel Russland endgültig zum Gegner abgestempelt. Der ehemalige russische Botschafter in der Bundesrepublik beklagt in seinem Buch den Bruch im bilateralen Verhältnis, fühlt sich hilflos und ratlos: Wie konnte es so weit kommen, warum brach Berlin im Jahre 2012 die Modernisierungspartnerschaft mit Moskau ab?
Bevor Grinin Botschafter wurde, arbeitete er in anderen diplomatischen Funktionen in Deutschland. Er begleitete als junger Zeitzeuge in den 70er Jahren in Bonn die Ostpolitik. Später erlebte er die deutsche Wiedervereinigung in Berlin. Grinin zitiert seinen Lehrmeister, den erfahrenen Sowjetdiplomaten Julij Kwizinski, der ihm folgenden Rat auf den Weg gab: Die Beziehungen Deutschlands zu Russland tragen niemals gleichmäßigen Charakter, es ist ein ständiges Auf und Ab.
Die Merkel-Kanzlerschaft brachte also wieder ein Abwärts in den bilateralen Beziehungen. Dem deutschen Vorwand, Russland habe sich von der Demokratie abgewandt, kann Grinin nichts abgewinnen. Für ihn liegt die Schuld bei den USA, die Europa und Deutschland nicht in die Souveränität entlassen und das Feindbild Russland für ihre Geopolitik benötigen. So denkt man heute auch im Kreml, obwohl Wladimir Putin eigentlich auf Deutschland als Hauptpartner im Westen setzen wollte und anfangs seine Hoffnungen setzte.
In manchen politischen Kreisen hierzulande wird man Grinin fehlende Selbstkritik vorwerfen. Doch seine Memoiren werden trotzdem gelesen, denn sie geben – wie derzeit in Deutschland selten zu finden – Zeugnis davon, wie Russland das gegenwärtige Deutschland wahrnimmt. Aus den Erinnerungen des Botschafters kann abgeleitet werden, welche Handlungsoptionen Moskau gegenüber Berlin künftig ins Feld führt. Man gewinnt auch eine Vorstellung davon, welche verbitterten Depeschen der frühere Botschafter während seiner Amtszeit aus Berlin nach Moskau schickte.
Der 73-Jährige überhäuft den Leser nicht mit russischen Sichtweisen. Diese hat er ausgiebig als Diplomat seines Landes vertreten. Vielmehr erforscht Grinin in seinem Buch die Gemengelage der bilateralen Beziehungen, verweilt bei der Kultur, lobt und beklagt den Auf- und Abschwung in den Wirtschaftsbeziehungen, sympathisiert mit vielen führenden deutschen Persönlichkeiten der Nachkriegs- und der Wende-Zeit, die vor einer Verschlechterung des deutsch-russischen Verhältnisses frühzeitig warnten und heute immer wieder warnen.
Grinin ist nicht im Bösen aus Deutschland geschieden. Im Gegenteil: Er glaubt, dass der Weg zurück zu einer engeren Partnerschaft möglich wäre, sobald alle Seiten begreifen, dass ein solcher Schritt zum Wohle beider Länder und Europas zwingend notwendig ist. Für diesen Sinneswandel hat er seinerzeit in der deutschen Hauptstadt leidenschaftlich gekämpft, Krim-Krise und Krieg in der Ostukraine zum Trotz. Es verging kein Tag, an dem der Botschafter nicht ein Gespräch mit deutschen Entscheidungsträgern suchte. Er suchte sogar die »Höhle des Löwens« auf, die Zentrale des Springer-Verlags, um sich für die Rettung der angeschlagenen, angespannten Beziehungen einzusetzen. Mehr als ein mildes Lächeln erfuhr er dort jedoch nicht.
Grinin war sich nie zu schade, Klinken zu putzen. Politiker, Wirtschaftsvertreter und Journalisten erinnern sich noch heute an die regelmäßigen Kamingespräche, zu denen er in der russische Botschaft in Berlin eingeladen hatte. Dort wurde bis spät in die Nacht über aktuelle Themen diskutiert, oft gestritten. Ein bekannter deutscher Topdiplomat, der an jenen Runden teilnahm, zollte seinem russischen Gegenüber großen Respekt: Es sei keineswegs selbstverständlich, dass sich der Botschafter eines solch bedeutenden Landes in die Niederungen »Normalsterblicher« herablässt und in seinen eigenen vier Wänden sich auch viel Kritik an seiner Regierung anhört. Ein US-Botschafter würde das wohl niemals erlauben.
Grinins Buch ist eine Werbung für die Rückkehr zur Normalität im beiderseitigen Verhältnis. Dabei betont der Ex-Botschafter, dass auch Russland konstruktivere Westpolitik betreiben müsse. Hoffentlich wird Grinin künftig dafür in Russland mit seiner Autorität werben. Zum Schluss schlägt der Diplomat noch einmal die Hände über dem Kopf zusammen. Die Behauptung einer deutschen Tageszeitung, »in der Coronakrise beabsichtigen russische Akteure, das Vertrauen der Menschen in das Gesundheitssystem zu beschädigen und Panik und Angst zu verschärfen«, macht ihn schlicht wütend und fassungslos. Von seinem Moskauer Schreibtisch aus fragt er: »Warum sollten wir das tun? Solche primitiven Thesen besitzen nicht einmal die Höhe eines deutschen Stammtisches.«
Wladimir Grinin überzeugt als Beobachter und Analytiker. In seinen auf Russisch und Deutsch erschienenen Memoiren schildert er, wie er 2010 in ein russlandfreundliches Deutschland kam – um 2017 ein völlig verändertes Deutschland zu verlassen.