Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland (5.12.2021)
Mit allergrößter Sorge beobachten wir die sich abermals verstärkende Eskalation im Verhältnis zu Russland. Wir drohen in eine Lage zu geraten, in der ein Krieg in den Bereich des Möglichen rückt. Von dieser Lage kann niemand profitieren, und dies liegt weder in unserem noch im russischen Interesse. Es gilt deshalb jetzt alles zu tun, um die Eskalationsspirale zu durchbrechen. Ziel muss es sein, Russland und auch die NATO wieder aus einem konfrontativen Kurs herauszuführen. Es bedarf einer glaubwürdigen Russlandpolitik der NATO und der EU, die nicht gutgläubig-naiv oder beschwichtigend, sondern interessengeleitet und konsequent ist. Jetzt ist nüchterne Realpolitik gefragt.
Fest steht: Die Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine und das Imponiergehabe gegenüber NATO-Staaten in Übungen und insbesondere durch Aktivitäten der nuklearen Kräfte sind inakzeptabel. Dennoch führen Empörung und formelhafte Verurteilungen nicht weiter. Eine einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik ist nicht erfolgreich; wirtschaftlicher Druck und die Verschärfung von Sanktionen haben – dies zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre – Russland nicht zur Umkehr bewegen können. Vielmehr sieht sich Russland aufgrund der westlichen Politik herausgefordert und sucht durch aggressives Auftreten die Anerkennung als Großmacht auf Augenhöhe mit den USA sowie die Wahrung seines Einflussbereiches im postsowjetischen Raum. Damit steigen die Gefahren für die russische Wirtschaft (Ausschluss aus dem SWIFT-System) und einer Destabilisierung der Sicherheitslage besonders in Europa deutlich.
All dies darf seitens des Westens nicht als Entschuldigung für tatenloses Zusehen oder für die Akzeptanz der Eskalationsverstärkung verstanden werden. Die NATO sollte aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken. Hierzu sollte auch ein Treffen ohne Vorbedingungen auf höchster Ebene nicht ausgeschlossen werden. Wir brauchen im Grundsatz einen vierfachen politischen Ansatz:
- Erstens: Eine hochrangige Konferenz, die auf der Grundlage der fortbestehenden Gültigkeit der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990 und der Budapester Vereinbarung von 1994, aber ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten und auf verschiedenen Ebenen über das Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur berät.
- Zweitens: Solange diese Konferenz tagt – und dafür wäre realistischerweise ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren anzusetzen –, sollte auf jede militärische Eskalation auf beiden Seiten verzichtet werden. Es sollten der Verzicht auf eine Stationierung von zusätzlichen Truppen und die Errichtung von Infrastruktur auf beiden Seiten der Grenze der Russischen Föderation zu ihren westlichen Nachbarn ebenso wie die vollständige beiderseitige Transparenz bei Militärmanövern vereinbart werden. Außerdem müssen Fachdialoge auf militärischer Ebene revitalisiert werden, um eine Risikominimierung zu betreiben.
- Drittens: Der NATO-Russland-Dialog sollte auf politischer und militärischer Ebene ohne Konditionen wiederbelebt werden. Dazu zählt auch ein Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle. Nach Wegfall für die Sicherheit Europas wesentlicher Vereinbarungen (INF-Vertrag, KSE-Vertrag, Vertrag über den offenen Himmel) ist es angesichts der russischen Truppenkonzentrationen an der Grenze zur Ukraine vordringlich, gezielt Maßnahmen zur Schaffung von mehr Transparenz, zur Förderung von Vertrauen durch Verstärkung von Kontakten auf politischen und militärischen Ebenen sowie zur Stabilisierung regionaler Konfliktsituationen zu vereinbaren.
- Viertens: Es sollte trotz der derzeitigen Lage über weitergehende ökonomische Kooperationsangebote nachgedacht werden. Der Rückgang der Bedeutung fossiler Energieträger, von deren Export die russische Wirtschaft stark abhängt, birgt die Gefahr wachsender wirtschaftlicher Risiken für Russland, die wiederum politische Instabilitäten bedingen könnten. Wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte einen wichtigen Beitrag zu europäischer Stabilität leisten und zudem ein Anreiz für Russland zur Rückkehr zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen sein.
Es müssen mithin win-win-Situationen geschaffen werden, die die derzeitige Blockade überwinden. Dazu gehört die Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten. Mit Rücksicht darauf sollte in Fragen der künftigen Mitgliedschaften in NATO, EU und CSTO für die Dauer der Konferenz ein Freeze vereinbart werden. Dies würde keinen Verzicht auf die Einforderung grundlegender in der OSZE vereinbarter Standards bedeuten.
Das mag für viele nicht einfach sein und auch nicht der reinen Lehre entsprechen. Aber jede Alternative ist deutlich schlechter. Deutschland kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Deutschland sollte alles unterlassen, was seine feste Verankerung im transatlantischen Verbund schwächen könnte, sollte auf De-Eskalation hinwirken und auf Vereinbarungen dringen, die den Einsatz militärischer Mittel in Europa jenseits der Bündnisverteidigung ausschließen. Dies sollte nicht als Einladung an Russland zur Veränderung des territorialen Status quo in Europa missverstanden werden, aber es gibt für die Ukraine-Krise keine militärische Lösung, die nicht zu einer unkontrollierbaren Eskalation führt.
Botschafter a.D. Ulrich Brandenburg, Deutscher Botschafter bei der NATO (2007-2010) und in Russland (2010-2014); Prof. Dr. Michael Brzoska, Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2006-2016); Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser, Abteilungsleiter Militärpolitik bei der deutschen NATO- Vertretung in Brüssel (2004-2008); Prof. Dr. Jörn Happel, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg; Botschafter a.D. Hans-Dieter Heumann, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (2011-2015); Botschafter a.D. Hellmut Hoffmann, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Genfer Abrüstungskonferenz (2009-2013); Botschafter a.D. Heiner Horsten, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE in Wien (2008-2012); Brigadegeneral a.D. Hans Hübner, Kommandeur des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr (1999-2003); Prof. Dr. Heinz- Gerhard Justenhoven, Direktor des Instituts für Theologie und Frieden; Stephan Klaus, Sprecher der Jungen GSP; Generalleutnant a.D. Dr. Ulf von Krause, Befehlshaber des Streitkräfteunterstützungskommandos der Bundeswehr (2001-2005); Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE in Wien (2012-2015); Prof. Dr. Gerhard Mangott, Universität Innsbruck; General a.D. Klaus Naumann, Generalinspekteur der Bundeswehr (1991-1996) und Vorsitzender des NATO- Militärausschusses (1996-1999); Prof. em. Dr. August Pradetto, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg; Roger Näbig, Blog Konflikte und Sicherheit; Prof. Dr. Götz Neuneck, Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2009-2019); Jessica Nies, Sprecherin der Jungen GSP; Oberst a.D. Harry Preetz, Landesvorsitzender Bereich I der Gesellschaft für Sicherheitspolitik; Oberst a.D. Wolfgang Richter, Stiftung Wissenschaft und Politik, Leitender Militärberater bei der deutschen OSZE-Vertretung (2005-2009); Oberst a.D. Richard Rohde, Sektionsleiter Bonn der Gesellschaft für Sicherheitspolitik; Botschafter a.D. Dr. Johannes Seidt, Chefinspekteur des Auswärtigen Amts 2014 bis 2017; Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb, Verteidigungsattaché an der deutschen Botschaft Moskau (2011-2018); Prof. Dr. Michael Staack, Helmut- Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg; Brigadegeneral a.D. Armin Staigis, Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (2013-1015); Prof. Dr. Johannes Varwick, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Dr. Wolfgang Zellner, Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2009-2019).
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