Turnier der Weltmeisterkandidaten in Jekaterinburg 2020
Martin Hoffmann, Geschäftsführender Vorstand des Deutsch-Russischen Forums e.V., hat ein aufregendes Hobby. Seit seiner Kindheit spielt er gern Schach und beobachtet weltweit die Wettbewerbe in diesem Sport. Sein Höhepunkt: 2018 fand das Schach Kandidatenturnier in Berlin statt. Martin Hoffmann setzte damals den ersten Zug (siehe Foto und Film).
Dieser Tage findet der Vorentscheid zur Weltmeisterschaft im entfernten Jekaterinburg statt. Wir haben Martin Hoffmann gebeten, seine Beobachtungen aufzuschreiben und seine Leidenschaft in Worte zu fassen.
Schachsport ist ähnlich wie Eishockey das Markenzeichen schlechthin der ehemaligen Sowjetunion und des heutigen Russland. Die Uralmetropole Jekaterinburg hatte den Zuschlag erhalten, und richtet nun das hoch renommierte Qualifikationsturnier seit Mitte März aus. Der Gewinner des Turniers wird dann Ende des Jahres voraussichtlich in Dubai den amtierenden Weltmeister Magnus Carlson herausfordern.
Russlands Faszination für das königliche Spiel ist traditionell grenzenlos. In der damaligen Sowjetunion wurde Schach als Breitensport und Schulfach gefördert. Unvergessen die Zeiten des Kalten Krieges, in denen Boris Spasskij für die Sowjetunion und Bobby Fischer für die USA geradezu schicksalhafte Systemwettkämpfe austrugen, vergleichbar dem Wettrennen um die Vorherrschaft im Kosmos.
In dieser Tradition entschied man sich jüngst – allen Coronaängsten zum Trotz – das Turnier der Kandidaten in Russland dennoch auszutragen. Sicher war für diese Entscheidung auch ausschlaggebend, dass gerade der Schachsport seine Liebhaber perfekt über das Internet ansprechen und einbinden kann. Insbesondere für die Schachnation Russland also eine Gelegenheit, kluge und spannende Unterhaltung in Zeiten einsamer Quarantäne zu bieten.
Qualifiziert haben sich in einem aufwendigen Ausscheidungsverfahren acht Teilnehmer, die jetzt um die Ehre kämpfen, den Weltmeister herauszufordern. Drei russische Kandidaten haben ein „Heimspiel“ und zwei Teilnehmer aus China beweisen, dass Asien auch im Schach mittlerweile einen Großmachtstatus vorzuweisen hat. Doch beide Nationen müssen anerkennen, dass Fabiano Caruano – der Favorit des Turniers und zweitbester Spieler der Welt – aus den USA kommt. Europas Hoffnungen liegen neben den russischen Bewerbern bei dem Franzosen Maxime Vacier Lagrave und dem in Sankt Petersburg geborenen Anish Giri, jetzt niederländischer Staatsbürger. Wer sich für den schönsten Denksport der Welt interessiert, der wird jeden Tag live informiert durch das Internetportal Chess24. Die Runden finden von 12 Uhr bis ca. 17 Uhr deutscher Zeit statt. Den genauen Modus und die Austragungstage zusammengefasst findet man auf der Seite des SPIEGEL.
Gespielt sind nun bereits 6 von 14 Runden und es lässt sich ein erstes Zwischenfazit ziehen. Die Veranstalter des Weltschachverbandes müssen sich zunehmend fragen lassen, ob es richtig war, das Turnier in Zeiten von Corona zu starten und vor allem, ob Sie diese Entscheidung bis zum Ende des Turniers durchhalten werden. Zwar gibt es offiziell in Jekaterinburg noch keinen „Coronafall“, aber dessen ungeachtet werden die Maßnahmen immer strenger und die Rahmenbedingungen immer belastender für die Kandidaten. Jeden Tag wird Fieber gemessen und schon bei 37 Grad macht sich Unwohlsein bei den Veranstaltern breit. Im Saal sind keine Zuschauer und alle Spieler stehen unter einem dauerhaften extremen psychologischen Druck. Die amerikanischen und chinesischen Favoriten starten mit sonst unvorstellbaren Fehlern und Niederlagen. Profitiert hat bis jetzt der 29jährige Russe Jan Nepomnjaschtschi, den bisher niemand auf der Rechnung hatte. Er sammelt beachtliche 4,5 von 6 möglichen Punkten und sollte zumindest die erste Hälfte des Turniers seine Führung halten können.
Doch am Ende wird derjenige die Oberhand behalten, der die besten Nerven beweist und am besten mit den Damoklesschwertern des Turnierabbruchs, der Isolation und möglicher weiterer Corona-Hiobsbotschaften umzugehen versteht. Egal wie es ausgehen mag. Das Turnier wird als einzigartig in die Geschichte des Schachsports eingehen. Und eines wird wie früher sein: Die Geschichte des Schachspiels wird nicht allein durch die Qualität und das Genie der Wettkämpfer geschrieben, sondern auch durch die weltpolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die im königlichen Spiel seinen Ausdruck finden.
Zum Autor
Martin Hoffmann (1960 in Lünen geb.) studierte Slavistik und Geschichte in Münster und Moskau. Ab 1990 arbeitete Hoffmann als Leiter für Seminar- und Bildungsreisen mit den Länderschwerpunkten Russland, Amerika und China. 1992 wechselte Hoffmann zu dem vom Auswärtigen Amt und vom Bundespresseamt geförderten Verein für deutsch-russische Beziehungen „ARGE-OST“ und leitete die Informationsmesse „Deutsche Kulturtage“ in verschiedenen russischen Regionen. Seit 1995 ist Martin Hoffmann Geschäftsführer des Deutsch-Russischen Forums e.V.: „Schach brachte mich dazu, mich mit Russland und der russischen Sprache zu beschäftigen.“