Prof. Michail Schwydkoj geht in seinem Beitrag vom 22. Juni 2021 in der Rossijskaja Gazeta auf das unmissverständliche Miteinander unserer beiden Länder ein. Er verweist auf den Aufruf „Lasst uns Frieden stiften“, mitinitiiert vom Deutsch-Russischen Forum e.V., und hebt die bilaterale Städtepartnerkonferenz in Kaluga hervor. Den Artikel von Prof. Schwydkoj, Träger des Dr. Friedrich-Joseph Haass-Preises des Deutsch-Russischen Forums e.V. haben wir übersetzt und im Folgenden aufgeführt. Der Artikel im Original ist unter diesem Link nachzulesen.
In den Tagen, in denen in Russland und in Deutschland, in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und in anderen Ländern der Welt an das tragische Datum in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert wurde – den 80. Jahrestag des heimtückischen Angriffs des nationalsozialistischen Dritten Reiches auf die Sowjetunion -, nahm der Artikel des russischen Präsidenten Wladimir Putin „Offen sein, trotz der Vergangenheit“ einen besonderen Platz unter den Publikationen ein, die diesem bitteren Tag gewidmet waren.
Putins Artikel wurde in der Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit“ abgedruckt und richtete sich vor allem an deutsche Leser, obwohl auch viele internationale Medien den Inhalt veröffentlicht haben. Es ist eine Auseinandersetzung mit jenen westlichen Politikern und Publizisten, die Hitlerdeutschland und der UdSSR die gleiche Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zuschreiben wollen, sowie mit jenen, die einen neuen „Eisernen Vorhang“ zwischen dem heutigen Russland und dem Rest Europas errichten wollen. Trotz des Gedenkens der Vergangenheit ist der Artikel in die Zukunft gerichtet.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Videoansprache an ihre Landsleute am 19. Juni eine unmissverständliche Bewertung der Ereignisse vor achtzig Jahren abgegeben und die fortdauernde Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen anerkannt, die dem Angriff des NS-Staates auf die UdSSR am 22. Juni 1941 folgten. „Für uns Deutsche ist das ein Anlass für Scham. (…) Das schulden wir den Millionen Opfern und ihren Nachfahren.“
Für uns Deutsche ist das ein Anlass für Scham. (…) Das schulden wir den Millionen Opfern und ihren Nachfahren.“
Trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten zu bestimmten Ereignissen der Gegenwart haben beide Staatsoberhäupter, deren Vorfahren im zwanzigsten Jahrhundert blutige Kriege gegeneinander geführt haben, keine wesentlichen Unterschiede in ihren Ansichten über die Vergangenheit. Dies ist eine qualvoll erkämpfte Sichtweise der historischen Ereignisse durch Menschen meines Alters, miteinander verbunden durch eine unermessliche Tragödie, die auch zur physischen Vernichtung des multinationalen Sowjetvolkes hätte führen können.
Der Begriff Gedächtnis wird unterschiedlich definiert, u.a. auch als „Fähigkeit des Gehirns Informationen zu speichern und willentlich abzurufen“. Für mich ist das Wort „willentlich“ der Schlüssel. Es ist von großer Bedeutung, dass die Ansichten von Wladimir Putin und Angela Merkel von den Zivilgesellschaften beider Länder mitgetragen werden.
Ein bemerkenswertes Beispiel ist der an das russische Volk und die politische Führung Europas gerichtete Aufruf von ehemaligen und heutigen Parlamentariern, Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur in Deutschland. Auch Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder gehört zu den Unterzeichnern. Die Autoren des Aufrufs sind sich einig in ihrer Einschätzung der Vergangenheit und der Wege aus der gegenwärtigen tiefen Krise, in der sich die Beziehungen zwischen unseren Ländern befinden. Einen solchen Apell zu veröffentlichen, in dem die Rolle Russlands in der modernen Welt offen angesprochen wird, ist während des Vorwahlkampfes in Deutschland ein äußerst ernsthafter Schritt, der zu Kritik seitens der Mehrheit der deutschen Medien führen kann (und m.E. auch wird). Aber es ist meines Erachtens ein notwendiges und daher gerechtfertigtes Risiko.
„Wir wissen: Frieden in Europa kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben.“ Diese Worte stehen im Einklang mit Merkels Gedanken: „Russland und Deutschland sind historisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich eng miteinander verbunden (…) Wir brauchen auch weiterhin den Dialog mit Russland“. Mir ist bewusst, dass Dialog und Zusammenarbeit nicht dasselbe sind, aber trotzdem…
In dem Aufruf von Vertretern der deutschen Öffentlichkeit an die Politiker in Ost- und Westeuropa heißt es: “ Bewegt Euch! … Macht es wie es die Menschen in Russland, Deutschland und Europa in der konkreten Arbeit in Städtepartnerschaften, Jugendaustausch, Wirtschafts- und Wissenschaftskooperationen. Verlasst die mentalen Gefängnisse der Feindbilder, Ressentiments und Ängste! Lasst uns endlich Frieden schließen! Die Völker Europas warten schon so lange darauf. Dies ist die Lehre des 22. Juni und dafür stehen wir, die Unterzeichner.“
Es gibt viele Menschen in Russland und Deutschland, die zu einer konstruktiven und gutnachbarschaftlichen Zusammenarbeit bereit sind.
Das sind keine leeren Appelle von Menschen, die sich nur auf das Handeln von Politikern verlassen. Vom 28. bis 30. Juni findet in Kaluga die 16. Konferenz der Partnerstädte Russlands und Deutschlands statt, an der rund fünfhundert Teilnehmer zusammenkommen werden. Es ist eine der größten Veranstaltungen, die vom Deutsch-Russischen Forum e.V. zusammen mit den nationalen Verbänden der Städte unserer Länder organisiert wird.
Die Tatsache, dass die Konferenz in das offizielle Programm des Deutschlandjahres in Russland aufgenommen wurde, zeigt die gewichtige Rolle der Zivilgesellschaften bei der Umsetzung großer zwischenstaatlicher Programme. Diese Konferenz, bei der ein breites Spektrum an Themen erörtert wird – von der Wirtschaft über Probleme der Stadtverwaltung bis hin zum Schüler- und Studentenaustausch -, ist der Beweis dafür, dass es in Russland und Deutschland viele Menschen gibt, die zu einer konstruktiven und gutnachbarschaftlichen Zusammenarbeit bereit sind.
Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam mit unseren deutschen Partnern auch Wege finden werden, die wichtigste Dialogplattform zwischen den Zivilgesellschaften beider Länder, den Petersburger Dialog, unter dessen Schirmherrschaft wichtige soziokulturelle Projekte durchgeführt werden, erfolgreich zu entwickeln. Die Zivilgesellschaften beider Länder spielen eine bedeutende Rolle, wenn es darum geht, dringende Probleme unseres Lebens zu diskutieren. Deshalb ist es so wichtig, dass an der Mehrheit der Programme junge Russen und Deutsche gemeinsam teilnehmen.
Die Erfahrung des Jugendparlaments bei den Potsdamer Begegnungen, initiiert von der Gortschakow-Stiftung für öffentliche Diplomatie und dem Deutsch-Russischen Forum e.V., zeigt, dass Auslassungen über den Infantilismus der neuen Generation und ihre konsumorientierte Lebenseinstellung eher oberflächlich sind. Ich bin mir sicher, dass sie Putins Vorstellung darüber mittragen, dass „…die gesamte Nachkriegsgeschichte des Großen Europas Folgendes unter Beweis gestellt hat: Prosperität und Sicherheit unseres gemeinsamen Kontinents sind nur durch gebündelte Anstrengungen aller Länder, einschließlich Russlands, möglich. Denn Russland ist einer der größten europäischen Staaten. Und wir spüren unsere untrennbaren kulturellen und geschichtlichen Bande zu Europa.“
Eine echte Zukunft kann nur auf dem Fundament einer echten Vergangenheit aufgebaut werden. Dabei ist allerdings wichtig, dass die Vergangenheit die Zukunft nicht überschattet.