Ein exklusiver Bericht unseres Journalistenpraktikum-Absolventen Dmitriy Kuzin
Der Wunsch, am eigenen Leib einmal zu erfahren, wie das so ist, veranlasste mich als Beobachter an den Präsidentschaftswahlen am 18. März 2018 teilzunehmen. Außerdem wollte ich meinen gesellschaftlichen Beitrag zu dieser wichtigen Sache leisten. Für welche Partei als Wahlbeobachter zu gehen, ist eine schwierige Frage. Mein ganzes Leben betrachtete ich mich als rechten Demokraten und ein wenig auch als Liberaldemokraten, den Kandidaten der Liberaldemokratischen Partei Russlands Vladimir Zhirinovskiy mit seinen radikalen Reformen akzeptierte ich allerdings nie. Daher habe ich mich entschieden als Wahlbeobachter für die Partei „Einiges Russland“ zu kandidieren, obgleich ich auch nicht unkritisch gegenüber der Regierungspartei bin. Das Gebiet Uljanowsk mit seinem Image als Heimat von Vladimir Lenin gehörte lange Zeit zum „roten Gürtel“, wo traditionell die Mehrheit der Stimmen für Vertreter der Kommunisten abgegeben wurden. Die Veränderungen der letzten zehn Jahre allerdings haben sich vielfach auf die Wählergunst ausgewirkt, wie die letzten Präsidentenwahlen zeigten.
Aus dem Stab von Einiges Russland erhielt ich recht schnell eine Zustimmung zu meiner Kandidatur. Nachdem ich eine Schulung absolviert und einen Merkzettel für Wahlbeobachter (ohne beratende Stimme), das Namensschildchen und eine Zuteilung zu Wahlbezirk № 3942 am Gymnasium №1 der Stadt Uljanowsk erhalten hatte, bereitete ich mich gespannt auf den Wahltag am 18. März vor.
Der Sonntagmorgen erfreute die Bürger mit tiefem Schnee, der zuvor in der Nacht gefallen war. Die Schneeräumtechnik und die Straßenkehrer hatten die Stadt noch nicht geräumt und so musste ich mich zu 7.30 Uhr über frische Schneehaufen von bis zu 30 cm Höhe auf den Weg in meinen Wahlbezirk machen. Nachdem ich mich beim Sekretär registriert hatte, lernte ich die den Kommissionsvorsitzenden des Wahlbezirks und Direktor des Gymnasiums №1 Alexey Klokov und die Wahlbeobachterkollegen kennen. Außer mir waren es in unserem Wahlbezirk jeweils ein Wahlbeobachter der Gesellschaftskammer, der Partei „Volksinitiative“ von Xenia Sobchak und der Partei „Jabloko“ von Grigoriy Yavlinskiy anwesend.
Nikita, ein junger Mann von Sobchaks Partei, hatte sich gründlich auf die Wahlen vorbereitet: er hatte einen guten Fotoapparat mit einem speziellen Gerät, das am Finger befestigt war, mitgebracht, um die tatsächlichen Wähler zu fixieren. Ich hingegen musste mich auf die Kamera meines Smartphones und die Aufzeichnungen im Notizbuch verlassen. Vor Öffnung des Wahllokals wurden uns allen die versiegelten Wahlurnen, die Wahlkabinen hinter den Vorhängen und die sauber vorbereiteten Stimmzettel (2250 Stück) präsentiert. Vor Beginn der Wahlen waren in diesem Wahlbezirk 2651 Menschen registriert, 392 Wähler hatten den Wunsch geäußert an einem anderen Ort wählen zu wollen. Etwa 30 Personen hatten einen Antrag auf Abgabe der Stimme in den eigenen vier Wänden gestellt, da sie nicht in der Lage seien, das Wahllokal aufzusuchen.
Parallel fand im Nachbarzimmer eine Abstimmung über das Projekt „Komfortables städtisches Umfeld“ statt, bei welcher sich Einwohner Uljanowsk ab 14 Jahren für einen oder mehrere Parks oder Erholungsgebiete entscheiden konnten, die aus ihrer Sicht mit Mitteln aus dem Staatshaushalt in Ordnung gebracht und modernisiert werden sollten.
Die Wahlen begannen um Punkt 8.00 Uhr Ortszeit. Der erste Wähler war eine ältere Frau, die offensichtlich extra zu so einer frühen Zeit erschienen war, um ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nachzukommen. Danach kamen die Leute einzeln, als Gruppen, Familien und Belegschaften. Einige Schwierigkeiten bereitete der Metalldetektor, der laut auf alle metallischen Gegenstände reagierte. Schließlich baten die Polizisten alle ankommenden Wähler, sämtliche metallischen Gegenstände auf den Tisch zu legen. Im Zeitalter des grassierenden Terrorismus und erhöhter Sicherheitsmaßnahmen störte sich jedoch niemand daran.
Zum Mittag begann die so genannte „Stoßzeit“ und vor dem Eingang zum Wahllokal und der Wahlkommission, die die Leute entsprechend ihrer Wohnanschrift registrierte, bildeten sich sogar kleine Schlangen aus 6-7 Personen. Mütter mit Babys in Tragetüchern, Familien mit Kindern und Spielzeug und Damen in Pelzmänteln und Hündchen kamen zum Wählen. Am Nachmittag ging der Wählerstrom zurück. Die Wahlbeteiligung betrug, wie erwartet, etwas über 50%. In der zweiten Tageshälfte machten sich ein paar Mitglieder der Wahlkommission mit einem Wahlbeobachter auf zu denen, die einen Antrag auf Stimmabgabe in den eigenen vier Wänden gestellt hatten.
Für richtige Furore sorgte der Vorsitzende der Gesetzgebenden Versammlung des Gebiets Uljanowsk Anatoliy Bakaev, der mit einer Horde von Foto- und Fernsehjournalisten zu Wahl erschienen war. Gewöhnlich werden Fotos von bekannten Personen beim Einwurf des Stimmzettels in die Wahlurne fotografiert. Bakaev hatte dies zusammen mit seiner Tochter getan. Ein eifriger Fotograf hatte ihn in der Kabine während der Stimmabgabe aufgenommen und hierfür den Vorhang zurückgeschoben. Wir mussten ihn verwarnen, da der Fotograf damit das Wahlgeheimnis verletzt hatte. Die Fotografin begann sich zu rechtfertigen, dass sie dies mit seinem Einverständnis getan habe. Ein Protokoll über diesen Vorfall setzten wir nicht auf. Der Wahlbeobachterkollege von Xenia Sobchak stellte fest, dass die Mitglieder der Wahlkommission auf den Listen der anwesenden Wähler Notizen zur Altersgruppe machten und hielt dies für eine Wahlrechtsverletzung. Er setzte eine entsprechende Anzeige auf. Gelegentlich traten Vertreter der Medien und der Kontrollinstanzen an die Wahlbeobachter mit der Frage heran, ob alles in Ordnung sei.
Außer ein paar winzigen Zwischenfällen hatten wir nichts über Verstöße zu berichten. Einmal verletzte ein sechsjähriges Kind das Verbot für Wahlwerbung am Tag der Wahl. Es durfte den Stimmzettel seines Vaters in die Wahlurne werfen. Mit dem Ruf „Ich bin für Putin, ich bin für Putin!“ und dem verlegenen Lächeln der Eltern schob der Junge den zusammengefalteten Stimmzettel in den schmalen Schlitz der Wahlurne. Überhaupt stellte der schmale Spalt einer der Wahlurnen für viele ein Problem dar, häufig blieben die doppelt gefalteten Stimmzettel in ihm hängen. Eine ältere Frau schob den hängen gebliebenen Stimmzettel mit dem Pass durch den Schlitz und der Ausweis wäre im Ergebnis beinahe hinterhergeflogen.
Die Wahlen zeigten mir auch, wie schwierig es ist Leute zu organisieren, sogar erfahrene und solche die bereits mehrfach an Wahlen teilgenommen hatten. Jeder dritte Wähler fragte uns, welche Markierung gemacht werden muss: ein Haken, ein Kreuz oder ein Kreis. Jeder fünfte konnte nach dem Wahlakt den Ausgang finden, ungeachtet einer eigens hierfür aufgestellten Hinweistafel, und ging versehentlich in das Direktorenbüro des Gymnasiums. Eine Frau, die offensichtlich etwas träumte und vergessen hatte ihr Kreuzchen zu machen, machte sich gleich nachdem sie den Stimmzettel erhalten hatte auf den Weg zur Wahlurne. Aber sie wurde noch rechtzeitig darauf hingewiesen und zur Wahlkabine geschickt.
Im Laufe des Tages erhielten meine Nachbarwahlbeobachter SMS-Nachrichten über die Vorbereitung von Provokationen aus dem Stab des Oppositionärs Navalniy. Dies führte zu einer Nervosität bei unserer Arbeit. Wie könnte das aussehen? Womit könnten die „Provokateure“ in unseren Wahlbezirk kommen: mit Flugblättern, Parolen oder faulen Tomaten? Womit könnte das enden? Aber während des ganzen Tages kam es zu keinen ernsthaften Exzessen.
Was die Ergebnisse der Wahlen angeht, so konnte ich sie bereits lange vor der Auszählung der Stimmen vorhersehen. Viele Stimmzettel öffneten sich im Fall in die Urne, so dass ich das gesetzte Kreuzchen gegenüber dem einen oder anderen Kandidaten sehen konnte. Die von mir festgestellte Dynamik im Wählerverhalten der Uljanowsker sah wie folgt aus: Putin-Putin-Putin-Grudinin-Putin-Putin-Putin-Putin-Zhirinovskiy- Putin-Putin-Putin-Sobchak-Putin-Putin…
Es war offensichtlich, dass der Russische Präsident in unserem Wahlbezirk mit großem Abstand führt. Nach Schließung des Wahllokals um 20 Uhr wurden die Urnen geöffnet und in Anwesenheit der Wahlbeobachter auf einen Tisch zur Auszählung geleert. Der sogenannte Komplex für die Verarbeitung der Stimmzettel (KOIB) kam auch zu unserem Wahllokal, wies beim Einrichten allerdings Fehler auf und kam an diesem Tag nicht zum Einsatz. In Folge zog sich die Auszählung der Stimmen bis 1 Uhr Nachts hin. Die Wahlergebnisse in unserem Wahlbezirk spiegelten in vielem die Wahlergebnisse im ganzen Land wider: für Putin wurden 1122 Stimmen, für Grudinin 243, für Zhirinovskiy 77, für Sobchak 58 von 1572 Stimmen abgegeben. An die Ehrlichkeit der Wahlen vom 18. März 2018 glaube ich daher. Der Grund ist wohl auf kein Geheimnis: starke Konkurrenten für Vladimir Putin gab es schlicht nicht!