Tagung in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt entfaltete „therapeutische Wirkung“
Ende Januar fand die Tagung „Eiszeit mit Russland?“ auf Initiative der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt und des Deutsch-Russischen Forums in der Lutherstadt Wittenberg statt. Über 60 Teilnehmende aus dem Umfeld beider Organisationen debattierten über die aktuellen Gegebenheiten in den deutsch-russischen Beziehungen. Die Tagung war Teil der Veranstaltungsreihe „Friedenswege Osteuropa“, die seit 2021 unter der Leitung von Christoph Maier, Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt, jährlich durchgeführt wird. Dabei wurden in den vergangenen Jahren die bestehenden Konfliktfelder in Georgien, Aserbaidschan und der Ukraine thematisiert. Die anhaltenden Diskussionen um Russland und Möglichkeiten der Zusammenarbeit im zivilgesellschaftlichen Umfeld standen auf der Tagesordnung der diesjährigen Tagung.
Prof. em. Christian Hacke, Universität der Bundeswehr Hamburg, und Tim Guldimann, ehemaliger Politologe, Diplomat und Politiker, eröffneten die Tagung mit einer Einschätzung der politischen Konfliktlage und den Möglichkeiten, diese auf diplomatischem oder militärischem Wege zu lösen. Christian Hacke nannte den Krieg in der Ukraine einen „Krieg der Fehlkalkulation“. Russland habe sich verkalkuliert und u.a. die „Wehrhaftigkeit der Ukraine“ grundlegend falsch eingeschätzt. Er betonte auch, dass in Folge dieser jüngsten Auseinandersetzung, Deutschland seine Erfolge und Verdienste der Entspannungspolitik Bahrs und Brandts über Bord geworfen habe. Dies begründe, so Hacke, die spürbare moralische und bisweilen fast militante Spaltung der politischen Mitte in Deutschland. Christian Hacke entwickelte mögliche Szenarien eines Kriegsausgangs und machte deutlich, was diese Optionen für die Kriegsparteien bedeuten könnten. Russland werde nach seiner Überzeugung militärisch nicht zurückweichen. Für die Ukraine bedeute das eine weitere Eskalation, zumal die Abhängigkeit von einem weiteren Nato-Engagement und dem Wahlausgang in den USA ein großer Unsicherheitsfaktor bleibe. Aus Sicht von Christian Hacke sei deshalb eine Suche nach diplomatischen Lösungen ein dringendes Gebot.
Tim Guldimann führte Grundbedingungen aus, ohne die ein Kriegsende auf diplomatischem Wege nicht denkbar seien. Die Ukraine müsse als souveräner Staat garantiert und anerkannt werden. Gleichermaßen dürfe eine russische Identität des nationalen Verständnisses nicht außen vor bleiben. Es drohe eine andauernde Konfrontation zwischen der westlichen Welt und Russland sowie möglicherweise sogar mit China. Die in der Vergangenheit geführte deutsche Außenpolitik habe sich zu stark auf Russland fokussiert. Vielmehr hätten Osteuropa mit Russland und insbesondere auch die baltischen Staaten, Polen und die Ukraine im Fokus deutscher Außenpolitik stehen müssen. Tim Guldimann unterstrich gleichzeitig, dass man im Westen mit Russland in der Vergangenheit oft nicht auf Augenhöhe gesprochen habe. Das habe tiefe Gräben und Unverständnis zur Folge. Er führte an, dass eine gemeinsame US-amerikanisch-russische Kooperation notwendig und denkbar sei, um Russland nicht dauerhaft einseitig an China zu binden. Es sei ein neuer, internationaler Dialog notwendig, an dem alle beteiligt sind, die Regeln für eine friedliche Weltordnung gemeinsam aufzustellen.
Jens Lattke, Leiter des Lothar-Kreyssig Ökumenezentrums und Landeskirchlicher Beauftragter für Friedensarbeit, zeichnete aus kirchlicher Sicht auf, wie ein möglicher Frieden aussehen könne und ging dabei auf das Bild des gesellschaftlichen Dialogs bei den Friedensbestrebungen. Er betonte, dass Frieden und Konfliktfähigkeit im menschlichen Miteinander beginne. Er betonte dabei unter anderem den notwendigen Verzicht auf aggressive Sprachbilder. Auch in Zeiten von Konflikt und Unverständnis müsse der Dialog insbesondere mit Blick auf die Zivilgesellschaft fortgesetzt werden können.
Teil der Tagung war auch ein Vortrag von Seniorprof. Dr. Dr. h.c. mult. Volker Gerhardt, Institut für Philosophie Humboldt-Universität zu Berlin, am Abend: Prof. Gerhardt ging zu Beginn des Jubiläums „300 Jahre Immanuel Kant“ darauf ein, was neu an bzw. in der Philosophie des berühmten Denkers aus Königsberg sei. Dabei sprach er über Kants Ansatz eines „ewigen Friedens“ der als ideale Kategorie grundsätzlich an eine von der Weltgemeinschaft gemeinsam erarbeitete und anerkannte Rechtsverfasstheit voraussetze.
Am zweiten Tagungstag stand die praktische, zivilgesellschaftliche Arbeit im Mittelpunkt: In drei Arbeitsgruppen zu den Themen „Städtepartnerschaft auf Eis“, „Zivilgesellschaftliches Engagement unter schwierigen Vorzeichen“ und „Kirchliche Partnerschaftsarbeit in Osteuropa“ konnten die Teilnehmenden Ihre Nöte und Herausforderungen zur Diskussion stellen und gegenseitig Hilfestellungen bzw. Austauschmöglichkeiten anbieten.
In der Arbeitsgruppe Kirche wurde der friedensstiftende Ansatz besprochen. Der Dialog müsse auch in diesen Zeiten gefördert werden, denn nur im Gespräch könnten Lösungen der Konflikte und des Krieges ausgearbeitet werden. Dr. Vladimir Kmec, Ökumenisches Zentrum der EKBO, betonte, dass auch bilaterale Kirchenprojekte nicht mehr vollends arbeiten könnten. Insbesondere der Bereich der Finanzierung sei nicht mehr gesichert. Die Evangelische Kirche habe durch den Rücktritt von Bischof Brauer keine geistliche Führung mehr im Lande; sie erlebe zudem schwierige Zeiten, auch weil die Evangelische Kirche in Russland sich kritisch äußere.
In der Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft wurden Fragen und Problemstellungen einer humanitären NGO-Arbeit besprochen (Klärung der Lebensrealitäten, Überprüfung möglicher Risiken und Reiseoptionen für Ruissland ). Anne Hofinga, Mitglied im Vorstand des Deutsch-Russischen Forums e.V., berichtete bereits eingangs über ihre Arbeit in Moskau. Sie habe in den vergangenen drei Jahrzehnten über 85 NGOs mitgegründet, die heute noch immer arbeiten. Im Mittelpunkt stehen Themen wie die Kunst- und Musiktherapie für traumatisierte Kinder, Heilpädagogik und Sozialarbeit. Sie plädierte dafür, nicht nur kritisch, sondern auch konstruktiv positiv Russland und den Menschen im Lande zu begegnen. Schließlich müssten erarbeitete Projekte und deren Wirkungskreise auch geschützt werden.
Nils Winkhoff und Katharina Nordhaus vom Freunde Baschkortostans e.V. leiteten die Arbeitsgruppe Städtepartnerschaften. Sie zeichneten zunächst ein Bild Ihrer Vereinsarbeit in Halle / Saale. Der Verein Freunde Baschkortostans könne gegenwärtig seine Jugendarbeit nicht vollends entfalten. Dennoch gebe es immer wieder Ansätze und Ideen, das Miteinander zu fördern. In der Arbeitsgruppe waren deutlich Gefühle der Hilf- und Machtlosigkeit sowie der Gleichgültigkeit zu vernehmen. Doch trotz der anhaltenden Gefühlslage und einer schwierigen Kommunikation mit den russischen Partnern, sprachen sich die Mitdiskutierenden dafür aus, an ihrer Zivilgesellschaftsarbeit festzuhalten. Wichtig bleibe es die eigene Arbeit unabhängig von der eigenen Stadtverwaltung zu erhalten, aber dennoch eine Kommunikation mit der deutschen Verwaltung offen zu sein. Hierzu gab es bei den Teilnehmers der neuen Bundesländern bessere Erfahrungen als bei denjenigen Vertretern aus Westdeutschland.
Petra Schwermann, Vorsitzende des Vorstands im Deutsch-Russischen Forum, moderierte das Abschlusspanel, an dem die Arbeitsgruppenleitenden sowie Hans-Joachim Kiderlen, teilnahmen. In ihrem Schlussappell stellte Anne Hofinga fest, dass es in Russland eine nach wie vor positive und offene Haltung gegenüber deutschen Bürgern gebe. Diese Haltung sehe Sie als Chance, ohne die man später keine Brücken errichten werden. Herr Kiderlen mahnte eine eigene, europäische Haltung an. Russland werde auch in Zukunft ein mitgestaltender Faktor der europäischen Politik bleiben. Dies sei allerdings aus seiner Sicht mit der jetzigen Führung im Lande nicht möglich. Er verweist darauf, dass die Zivilgesellschaft „einen langen Atem haben müsse“, um einen späteren Frieden mit Russland wieder aktiv zu erleben.
Die Tage in Wittenberg wurden in den Reaktionen der Teilnehmer positiv und wichtig bewertet. Die Möglichkeit über brennende gesellschaftliche und politische Fragen offen zu diskutieren, spielte dabei eine besondere Rolle. In geschützten Diskursräumen einander zuzuhören und von Wissen des Anderen zu profitieren, habe fast eine „therapeutische“ Wirkung entfaltet. Dabei wurde klar: Wenn vor allem persönliche Beziehungen im Fokus stehen sowie kontroverse Sachverhalte mit Bedacht und in gegenseitigem Respekt geäußert würden, könne man dringend notwendige gesellschaftliche Kontakte erhalten.