70 Jahre Kriegsende diente als Anlass über Perspektiven auf Geschehnisse des 20. Jahrhunderts und deren Aufarbeitung zu sprechen. Prof. Dr. Nikolaus Katzer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau, Dr. Nikolaj Pawlow, Dozent für deutsche Geschichte und Politik am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen und Tatjana Timofeewa, Dozentin für Neue und Neueste Geschichte an der Moskauer Staatlichen Universität debattierten an diesem Abend über die Geschichtsschreibung, über Reibungspunkte zwischen Deutschland und Russland und über die gegenwärtigen Beziehungen.
Bojan Krstulovic, Chefredaktuer der Moskauer Deutschen Zeitung, verwies als Moderator der Moskauer Gesprächsrunde zu Beginn der Veranstaltung darauf, dass es zu berücksichtigen sei, wie umfangreich das Thema WKII in der deutsch-russischen Geschichtsschreibung sei und dass es in der gemeinsamen Geschichtsschreibung neben politischen Ereignissen das große Kulturerbe vor dem Krieg nicht zu vergessen gilt. Die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts sind zeitlich gesehen nur ein kleiner Ausschnitt des mehr als 1000 jährigen Umgangs beider Völker. Den Deutschen wurde verziehen. Auch wenn sich Wissenschaftler um einige Momente der Geschichtsschreibung strittig sind – die Völker und die Politik sind sich einig geworden, ähnlich den Errungenschaften der deutsch-französischen Versöhnung. Die jüngsten politischen Entwicklungen scheinen diese Ansichtsweise jedoch zu trüben. Es kommen erneut Fragen der Völkerverständigung auf. Welche sind besonders disputable Momente in der Geschichtsschreibung? Worin besteht Übereinkunft?
Der Krieg hat auf beiden Seiten viele Menschen gefordert, jede Familie in Deutschland und Russland hat einen Bezug zum Krieg. Dank den Bemühungen der Deutschen, die Geschichte aufzuarbeiten, hat eine geschichtsträchtige Versöhnung stattgefunden, so Dr. Nikolaj Pawlow. Die jüngsten Entwicklungen dürfen das in einem langen Prozess erlernte gegenseitige Verständnis und Vertrauen nicht beeinträchtigen: „Je mehr Kontakt es gibt, desto mehr können sich beide Völker annähern.“
Der Schlagabtausch in den Medien um die Symbolik des Jahrestags zum Kriegsende wirft die Frage auf, ob die Zahl der Streitpunkte künftig zunehmen wird. Tatjana Timofeewa stellt als Historikerin heraus, dass Streitpunkte für den Ertrag der Wissenschaft sogar von Nutzen sind. Der wertvolle Kern ist was man daraus lernt, wenn man die Dinge beim Namen nennt. Dispute um das Jahr des Kriegsbeginns oder den Angriff auf Russland sollen einzig auf der wissenschaftlichen, nicht politischen Ebene ausgetragen werden. Die „Blinden Flecke“ der Bilder vom II.WK sind in der unterschiedlichen Perspektive verankert. Der Fokus soll auf der größten Schnittmenge liegen, nämlich, dass es solche Gräuel zu vereiteln gilt. Jenseits aller hitzigen Debatten um Kriegsbeginn und Kriegsende muss die Wissenschaft beider Seiten gemeinsam die Archive erschließen und offene Fragen objektiv klären. Es gilt die Vergangenheit gemeinsam aufzuarbeiten.
Deutschland sieht im ersten Moment den Krieg und seine Opfer, die Frage um Sieger und Besiegten ist zweitrangig. Die doppelte Nachkriegsgeschichte der DDR und BRD beeinflusste natürlich die Wahrnehmung und Beurteilung der Geschehnisse. In Etappen ist die Schuldeinsicht über die Jahrzehnte gewachsen. Der Höhepunkt des Prozesses um das Verständnis, ist die Ansicht befreit worden zu sein. Ob die Frage der Befreiung tatsächlich einer der bedeutendsten Punkte in der Geschichtsschreibung ist, stellt der Historiker Dr. Nikolai Pawlow zurück. Erneut ist die Perspektive das ausschlaggebende Moment, ob nun die Oktoberrevolution, der Zerfall der UdSSR oder das Kriegsende als wichtigstes Ereignis beurteilt wird. Es werden sich aber alle einig, dass dank der Hilfe der USA und GB, die Befreiung vom Faschismus den „Zusammenbruch der Zivilgesellschaft durch den Holocaust“ unterbunden hat. So wird auch in der Wissenschaft, als gemeinsamer Standpunkt der Deutschen und Russen, vielmehr der Terminus „Befreiung“ anstatt „Sieg“, verwendet.
Im Geiste der Offenheit und Objektivität sind die Beiträge der Deutsch-Russischen Gesichtskommission zur Erinnerungskultur des zweiten Weltkriegs im nationalen Gedächtnis eine Errungenschaft des wissenschaftlichen Disputs. Das gemeinsam erarbeitete dreibändige Geschichtsbuch stellt die Schlüsselereignisse der deutschen und russischen Geschichte aus dem 18., 19. und dem 20. Jahrhundert dar. Fehlender Konsens wird hierbei nicht überbügelt. Es werden vielmehr Auffassungsunterschiede und kontroverse Urteile parallel dargeboten, indem das Werk zentrale Ereignisse und Stationen der Geschichte beider Länder sowie gegenseitige Einwirkungen präsentiert. Den Lesern wird somit ermöglich sich selbst ein Bild zu verschaffen, inwieweit die Positionen der Länder auseinander liegen. Das Werk sei das Paradebeispiel einer Arbeitsform, die es zu pflegen gilt, so Prof. Dr. Katzer.
Im Anschluss an das Moskauer Gespräch wurden Stimmen aus dem Publikum, ob denn der 9. Mai nicht vielmehr ein Gedenktag der Kriegsopfer als Anlass der Besinnung sein müsse und ob Militärparaden nicht eher unangebracht seien, laut. Menschen brauchen Konsens und Freundschaft – für das Militär hingegen sind Gegner obligatorisch.
Kontakt
Nora Korte
Projektkoordinatorin Moskau
Tel.: +7 499 783 09 02
korte@deutsch-russisches-forum.de