Kürzlich brachte ein Kollege einen Russischen Zupfkuchen ins Büro mit. Bei der nächsten Kaffeepause erblickten wir das gepardenartige Muster der Oberfläche und die braunen Ränder des Kuchens – uns lief das Wasser im Mund zusammen. Doch es dauerte nicht lange bis unsere russischen Kollegen unisono versicherten, noch nie von diesem Kuchen in Russland gehört zu haben. An appetitlichen Kuchen und Torten mit seltsamen Namen wie: Napoleon, Ameisenhaufen oder Vogelmilch scheint es in Russland nicht zu fehlen. Und dennoch findet man in diesem bunten Haufen keinen „Russischen“ Zupfkuchen!
Interessant! Ran an die Recherche, dachte ich mir. Viele Spuren führen zu einem Werbespot der 90-er Jahre von Dr. Oetker. Im Voiceover spricht eine Dame mit russischem Akzent: „Wir waren eine große Familie… Ich erinnere mich noch genau an Onkel Michails Geburtstag, überall duftete es nach Sommer und Frischgebackenem… Großmama zauberte immer etwas ganz Besonderes – ihren Russischen Zupfkuchen“. Im großbürgerlichen Ambiente laufen Kinder herum. Eine junge Dame mit gelocktem Haar und rosa Schleifen springt einem Mann in die Arme. In der Küche herrscht viel Betrieb. Am Ende tritt eine an Katharina die Große erinnernde Frau mit dem lang erwarteten Kuchen zur Familie heraus.
Wer die berühmten Filmaufnahmen von Lew Tolstoi und seiner Familie (sie sind auf YouTube leicht zu finden) gesehen hat, weiß, dass diese Inszenierung gar nicht so sehr von der vorkommunistischen russischen Realität entfernt ist. Könnte es vielleicht sein, dass dieser Kuchen nach der bolschewistischen Machtübernahme durch den russischen Adel ins Exil – zum Beispiel nach Deutschland – gebracht wurde und in der Sowjetunion schlicht und einfach in Vergessenheit geriet?
Die weitere Recherche ließ diese schöne Hypothese wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Der taz-Blogger Jakob Hein erinnerte sich ebenfalls an den Dr. Oetker Werbespot und hakte dort entsprechend nach. Und es kam heraus:
„Der Kuchen hat seinen Ursprung keineswegs in Russland. Das Rezept erhielten wir im Rahmen eines Rezeptwettbewerbs des Dr. Oetker Back-Clubs. Der „Russische Zupfkuchen“ wurde bei diesem Wettbewerb in sehr vielen Arten und Weisen als Rezept eingereicht. Daraus wurde dann im Nachgang unsere Backmischungs-Variante. Der Name rührt von den dunklen Teigzupfen, die oben auf die Käsemasse aufgesetzt werden. Diese erinnern ungebacken an die Turmspitzen von russischen Kirchen.“
Ziemlich prosaisch ist also die Entstehungsgeschichte des Russischen Zupfkuchens. Das Wort „russisch“ ist demnach nichts anderes als eine Marketing-Finte. Für ein bisschen Dichtung inmitten der „trocknen Prosa“ sorgt allerdings die Bemerkung, dass die dunklen Teigzupfen ungebacken an die Turmspitzen von russischen Kirchen erinnern sollen… Ob dieser Einfallsreichtum der PR-Arbeiter von Dr. Oetker von den Russen gebilligt wird? Leider reagierten sie beim Vergleich der vergoldeten zarten Zwiebeltürme orthodoxer Kirchen mit den Schokoflecken auf diesem durchaus deutschen Kuchen eher mit Naserümpfen. Na gut, vielleicht sollte man dies als eine Anregung nehmen und sich beim Backen des nächsten Zupfkuchens mehr Mühe geben, damit die Zupfen jener ursprünglichen Idee gerecht werden!
Nachdem ich bei einer anderen Kaffeepause über die Ergebnisse meiner Recherche zum Zupfkuchen berichtete, kam die folgende Frage auf: „Und wie steht’s mit dem Russisch Brot? Ist das auch eine rein deutsche Erfindung?“. Nach der Entlarvung vom Russischen Zupfkuchen dürfte es nicht allzu sehr überraschen, dass das paradoxerweise in Form der lateinischen und nicht kyrillischen Buchstaben gebackener Russisch Brot nur denjenigen Russen bekannt ist, die schon mal die Regale deutscher Supermärkte begutachtet haben.
Im Gegensatz zum Kuchen, ist die Entstehungsgeschichte von Russisch Brot mit vielen interessanten Gerüchten umhüllt. Eins davon kreist um den Dresdner Bäckergesellen Ferdinand Wilhelm Hanke, der das Buchstabengebäck um 1844 aus Sankt Petersburg mitbrachte und später mit diesem Rezept (Eischnee, Zucker, Kakao und Mehl) ein Vermögen machte.
In Wien beansprucht man die Erfindung für sich: So soll ein russischer Gesandter am Wiener Hof im 19. Jahrhundert mit diesem Gebäck empfangen worden sein. Dabei kam es zu einer Mischung zwischen dem uralten russischen Brauch Gäste mit Brot (eigentlich mit Brot und Salz) zu begrüßen und dem Erfindungsgeist der Wiener Bäcker.
Diese Geschichten sind zugegebenermaßen sehr amüsant… Aber unser Artikel trägt seinen Titel nicht umsonst, denn jetzt kommt es! Das Backwarenunternehmen Bahlsen gibt hierzu eine nüchterne aber sehr interessante Erklärung: „Russisch Brot ist im Sprachgebrauch aus ‚rösches Brot‘ entstanden“. Rösch bedeutet knusprig und knuspriger als das Russisch Brot geht es einfach nicht. Sogar für das Wort „Brot“ findet sich eine logische Erklärung: Im 17. Jahrhundert bezeichnete man die mit Zucker hergestellten Backwaren als „Brod“.
Die Verwandlung von „rösches Brod“ zum „Russisch Brot“ stellt bestimmt für Linguisten ein interessantes Beispiel einer Sprachdynamik dar. Oder waren es doch die schlauen Bäcker, welche die Erfahrung machten, dass es sich mit dem Wort „russisch“ und dem damit einhergehenden leicht exotischen Flair besser verkaufen lässt? Ganz genau kann man das natürlich nicht wissen. Aber es ist gut möglich, dass Dr. Oetker an diese bewährte Werbestrategie anknüpfte und damit offensichtlich Erfolg hatte. Wer weiß, vielleicht werden bald noch mehr „Russen“ in der ganz deutschen Gastronomie auftauchen.
Von Sergei Zubeerov