- Auf welchen Werten basieren die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland?
Die Beziehung zwischen Deutschland und Russland, also der Völker unserer beiden Länder, bestehen bereits seit über tausend Jahren. Uns verbanden immer und verbinden noch heute die allgemeinen christlichen und humanistischen und säkularen Werte, das Interesse für Wissenschaft und Kultur des jeweils anderen Volkes, als auch wirtschaftliches Zusammenwirken. In Russland lebten viele Jahrhunderte lang Deutsche und halfen aktiv bei der wirtschaftlichen und geistlichen Umgestaltung des Landes. Sie wurden Teil der ethnischen Gemeinschaft Russlands und ein wichtiges Gegengewicht zur „asiatischen Barbarei“, die das Land mehrfach in seiner Geschichte überwinden musste. Man braucht nur Gontscharows Roman „Oblomow“ zu lesen, um zu verstehen, welch wichtige Rolle die Deutschen im soziopsychologischen Umfeld des russischen Lebens spielten.
- Welche Aspekte charakterisieren den europäischen Kulturkreis?
Den europäischen Kulturkreis charakterisieren sein antikes und christliches Erbe sowie die großen humanistischen Traditionen der Renaissance, welche die heutigen säkularen Werte begründeten. Dies gilt sowohl für die politische Ordnung als auch für das moderne geistige Leben. Es ist klar, dass jede ethnische Gemeinschaft Selbstfindung anstrebt, und so hat die Lebensordnung jedes europäischen Landes (Russland eingeschlossen) ihre Besonderheiten. In den wichtigsten, den grundlegenden Werten und insbesondere in den Grundrechten und Grundfreiheiten jedoch sind wir gleich.
- Wie bewerten Sie den Grad der intellektuellen Selbstbestimmung in Deutschland und Russland heute?
Ein russischer Vertreter der paradoxen Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Wassili Rosanow, schrieb: „In Russland gab es immer eine große Literatur und ein elendes Leben. Ich wünschte mir, das Leben sei großartig, dann könnte die Literatur in den Hintergrund treten“. Ich glaube, ähnliches könnte man auch über die Entwicklung in Deutschland sagen. Die deutsche Literatur bestimmte die Individualität der deutschen Nation, indem sie ihre einstmals getrennten Teile zusammenfügte. Für jeden Bayer oder Hamburger sind Goethe und Schiller, Thomas Mann und Richard Wagner gemeinsames Kulturgut der deutschen Nation (obwohl keines der deutschen Bundesländer seine historischen Eigenheiten verlieren möchte). Etwas Ähnliches geschieht in Russland, wo über 190 größere und kleinere ethnische Gemeinschaften leben. Ich kann nicht behaupten, dass Deutschland und Russland heute Länder sind, in denen es interessanter wäre, zu lesen, als zu leben. Aber das intellektuelle, das geistige Leben war für unsere beiden Völker schon immer von besonderem Wert und die intellektuelle Freiheit war ihnen schon immer nicht weniger wichtig, als gesetzliches Recht.
- Wie könnten kulturelle Kontakte die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland verbessern?
Ich bin überzeugt, dass Völker sich nur über kulturelle Werte kennenlernen. Es ist klar, dass wirtschaftliche und politische Beziehungen vieles bestimmen, ohne Vertrauen sind sie jedoch unvollkommen. Vertrauen zwischen den Völkern entsteht durch Wissen – geistiges und emotionales, also in erster Linie die schönen Künste. Thomas Manns Prosa, Rilkes Lyrik oder Peter Steins Inszenierungen erschließen genau wie die Bücher von Lew Tolstoi oder Fjodor Dostojewski oder Ballettaufführungen des Bolschoi oder Marijinski-Theaters die höhere Wahrheit über das Leben unserer Völker, ohne die ein Verständnis zwischen Politikern oder Unternehmern unmöglich ist. Natürlich besitzt die Kultur ihren Eigenwert. In der heutigen Welt ist sie jedoch außerdem ein wichtiges Instrument, um Vertrauen zwischen den Völkern zu befördern.
- Wie schätzen Sie die Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen ein?
Die Russen, genau wie die Deutschen, sind Romantiker und in gewisser Weise auch Idealisten, obwohl wir uns gern als Pragmatiker gerieren. Wir leben in einer multipolaren Welt, das ist klar. Es ist auch klar, dass Deutschland und Russland zahlreiche Interessen haben, die uns nach Partnern in unterschiedlichen Regionen der Welt suchen lassen. Die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen ist jedoch eine ganz besondere. Obwohl Deutsche und Russen im 20. Jahrhundert in zwei Weltkriegen gegeneinander kämpften und Millionen von Todesopfern zu beklagen hatten, ist es uns gelungen, Wege zur Versöhnung zu finden. Ja, mehr noch: es ist uns gelungen, die Entfremdung zu überwinden, die entsteht, wenn einer siegt und der andere verliert. Die Sowjetarmee hat gemeinsam mit den Armeen der Alliierten den nazistischen Staat zerschlagen. Dennoch ist der Sieg über das Naziregime ein gemeinsamer Sieg der Russländer und Deutschen, der uns an der Schwelle des 21. Jahrhunderts einander näher gebracht hat. Wir wären dumm, würden wir, die wir im 20. Jahrhundert zur Versöhnung fanden, dies im 21. Jahrhundert vergessen. Uns verbindet zu viel, als dass wir anders als optimistisch in unsere gemeinsame Zukunft blicken könnten. Auch, wenn es ein moderater Optimismus sein wird, es bleibt Optimismus.