Alexander von Humboldt, ein interdisziplinär denkender Wissenschaftler, Weltenentdecker und ein in vielen Genres versierter Schriftsteller. An das Universalgenie, den Reisenden und Abenteurer denken wir – und natürlich an die nach ihm benannte Humboldt Universität oder das neu gebaute Humboldt Forum in Berlin, das diesen September fertig gestellt werden soll. In der populärwissenschaftlichen Literatur ist der Name Humboldt eng verbunden mit dem Roman „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann, der 2012 von Detlev Buck verfilmt wurde. Dieses Jahr nun feiern wir seinen 250. Geburtstag. Doch nur die Wenigsten wissen, was genau der gebürtige Berliner erforscht hat, und noch weniger, dass ihn auch viel mit Russland verband. Grund genug, sich dieses Kapitel seines Lebens ein wenig näher anzuschauen.
Die Aufzeichnungen über die achtmonatige Expedition nach Russland zeigen uns heute, dass auch damals der Klimawandel bereits ein Forschungsthema war. Herr Prof. Dr. Oliver Lubrich, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaften und Komparatistik an der Universität in Bern, hat diesen Februar ein umfangreiches Buch mit dem Titel „Die Russland-Expedition. Von der Newa bis zum Altai“ über Humboldts Forschungsreise nach Russland veröffentlicht. Wir haben mit ihm gesprochen.
Herr Prof. Lubrich, dieses Jahr feiern wir den 250. Geburtstag von Alexander von Humboldt. Die wenigsten wissen, dass er auch in Russland forschte. Wie kam es zu dieser Reise?
Nachdem er Amerika und die Anden gesehen hatte, wollte Alexander von Humboldt eigentlich nach Indien und Tibet reisen. Nach Russland gelangte er dann eher durch einen Zufall. Der russische Finanzminister, Georg von Cancrin, bat ihn um ein Gutachten in Währungsfragen. So entstand ein Briefwechsel. Cancrin lud den berühmten Wissenschaftler zu einer Forschungsreise ein. Der Tsar würde sie finanzieren. Humboldt versprach im Gegenzug, kein Wort über die sozialen und politischen Bedingungen im Land zu veröffentlichen. So reiste er im Jahr 1828 als Sechzigjähriger von Berlin durch Russland und Sibirien bis an die Grenze von China.
Woran konkret forschte Humboldt in Russland?
Die russische Regierung hatte ein starkes Eigeninteresse an Humboldts Forschung in ihrem Land. Als erfahrener Experte sollte er den Bergbau im Ural inspizieren und Ratschläge zum Abbau von Bodenschätzen geben. Während seiner Expedition berichtete Humboldt regelmäßig an den Minister Cancrin. Über den russischen Auftrag hinaus ging er aber auch seinen eigenen Interessen nach. Er fand Wege, Zensur und Selbstzensur zu umgehen. So untersuchte er, wie sich die großflächige Abholzung und Verfeuerung von Wäldern, der Verlust an Vegetation und die Zunahme von Emissionen auf die Umwelt auswirkten. Er gelange so zur Idee eines menschengemachten Klimawandels. Diesen beschrieb er als Folge einer ineffizienten Energiegewinnung in einer autoritären Gesellschaftsordnung – mit Großgrundbesitz, Staatsmonopol und Leibeigenschaft.
Kann man also sagen, dass Humboldt einer der Vorreiter der heutigen Klimaforschung ist?
Ja, genau. Humboldt stellte fest, dass die Konsequenzen der Abholzung und Verbrennung der Wälder nicht nur lokal und kurzfristig, sondern großräumig und langfristig waren. Gegen den Widerstand ungläubiger Zeitgenossen behielt er damit Recht. Er schrieb auch über die Austrocknung von Seen infolge einer nicht nachhaltigen Landwirtschaft. Humboldt verstand das Klima als einen Komplex von Wechselwirkungen. Er dachte die Natur, bevor dieser Begriff geprägt wurde, „ökologisch“. So konnte er früh vor den Auswirkungen menschlicher Eingriffe warnen. Und er konnte deren politische, ökonomische und soziale Zusammenhänge erkennen.
Hat Humboldt trotz der Zensur seitens der russischen Regierung dennoch auch über die russische Kultur geschrieben?
Ja, nebenbei und versteckt. Humboldts Buch über Zentral-Asien (1843) und auch seine Briefe enthalten durchaus Beobachtungen über die russische Gesellschaft und über die zahlreichen Völker in Russland. Er traf Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Kulturen und konnte sich daher ein umfassendes Bild machen. Als Europäer wusste er, dass er sich im „Osten“ in einer Tradition der Fremdwahrnehmung bewegte, die wir mit Edward Said heute als „Orientalismus“ bezeichnen können. Aber er versuchte, eurozentrische Vorurteile gegenüber fremden Kulturen zu vermeiden und in seinen Texten die Stimmen der Einheimischen zur Geltung zu bringen.
Hat Alexander von Humboldt Russisch gesprochen?
Humboldt hat wohl nur wenig Russisch gesprochen. Da sich die Reise recht spontan ergab, konnte er sich nicht langfristig vorbereiten. Er verfasst sein Werk über Russland auf Französisch (Asie centrale). Und er berichtet, dass er auf seiner Reise viele Deutschsprachige traf. Er beschreibt auch eine germanophone Kultur in Russland. Asiatische Quellen ließ er sich übersetzen.
2019/2020 ist das Wissenschaftsjahr zwischen Deutschland und Russland. Insbesondere in der Wissenschaft ist der deutsch-russische Dialog in den vergangenen Jahrhunderten stets sehr fruchtbar gewesen. Welche Rolle spielt Humboldt in diesem Kontext?
Humboldt ist aufgrund seiner russischen Expedition von 1829 sicher eine wichtige Figur im deutsch-russischen Wissenschaftsaustausch. Zahlreiche Artikel und Aufsätze von ihm wurden ins Russische übersetzt und in Russland veröffentlicht. Allerdings wurden sie dabei auch zensiert. In einem Essay zum Beispiel hatte er geschrieben, dass „Fürstennähe auch den geistreichsten Männern von ihrem Geiste raubt“. Das war in Russland nicht möglich. In den russischen Übersetzungen wurde dieser Satz entweder gestrichen oder entschärft.
Was fasziniert Sie persönlich an Humboldt?
Alexander von Humboldt fasziniert mich als Wissenschaftler, als Reisender und als Schriftsteller. Als Wissenschaftler dachte er problemorientiert über Fächergrenzen hinweg, und er tauschte sich aus mit Kollegen in aller Welt. Als Reisender versuchte er, im Zeitalter des Kolonialismus, hegemoniale Diskurse zu vermeiden und europäische Vorurteile hinter sich zu lassen. Als Schriftsteller fand er kreativ neue Formen, um von seinen Reisen, seinen Beobachtungen und seinen Forschungen zu berichten.
Im Februar haben Sie ein Buch mit dem Titel „Die Russland-Expedition. Von der Newa bis zum Altai“ über Alexander von Humboldt Russlandreise veröffentlicht. Wie kamen Sie auf die Idee dieses Buch herauszugeben?
Humboldts großes Werk Zentral-Asien hatte ich 2009 auf Deutsch herausgegeben. Aber dieses Werk ist kein Reisebericht. Den Verlauf der Expedition können wir anhand der Reisebriefe nachvollziehen. Die Russland-Expedition. Von der Newa bis zum Altai ist ihre chronologische Montage. Hier wird deutlich, wie Humboldt in Russland gewissermaßen mit zwei Zungen sprach, indem er zwei Serien von Briefen schrieb: einerseits politisch an die russische Regierung, die seine Reise finanzierte und der er deshalb von ihrem ertragreichen Verlauf berichtete; andererseits an seinen Freund François Arago und seinen Bruder Wilhelm, dem er anvertraute, wie er in Russland überwacht und durch Privilegien verführt wurde. Und es gibt noch viele weitere Texte von Humboldt, die mit Russland zu tun haben und die neu zu entdecken sind: Seine gesammelten Essays publizieren wir in der Ausgabe seiner Sämtlichen Schriften, die im Sommer 2019 in zehn Bänden im dtv erscheint. Von Humboldts Aufsätzen und Artikeln sind viele russischen Themen gewidmet; und mehrere Dutzend von ihnen erschienen in russischer Sprache. Alexander von Humboldt war nicht nur ein Russlandforscher, er war auch als Autor in Russland präsent.
(c) Foto Alexander v. Humboldt: Wikimedia
(c) Oliver Lubrich: privat