Am 27. Januar 1944 endete die Leningrader Blockade nach über zweieinhalb Jahren Martyrium für die Bewohner der Stadt. Die Blockade gilt als eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht während des Kriegs gegen die Sowjetunion. Im Alter von 12 Jahren verbrachte Leonid Berezin sechs Monate in der belagerten Stadt. Zusammen mit der Organisation „Lebendige Erinnerung“ setzt er sich heute in Deutschland dafür ein, dass die Schrecken der Belagerung nicht in Vergessenheit geraten. Im Interview erzählt er von seinen Erlebnissen in den Jahren 1941/1942.
Herr Berezin, wie erinnern Sie sich an die Zeit vor dem Großen Vaterländischen Krieg?
Zu Beginn des Krieges war ich 12 Jahre alt. Die Pubertät setzte ein und den Sommer 1941 verbrachte ich in einem Pionierlager [Kinderferienlager im Rahmen der Pionierorganisationen in der Sowjetunion, Anm. der Redaktion]. In dieses Lager wurden die Kinder der Mitarbeiter der großen Leningrader Textilfabrik „Rotes Banner“ geschickt. Dort arbeitete mein Großvater. Das Lager lag – wie ich heute als Erwachsener sagen würde – sehr nah an Leningrad: Vom Finnischen Bahnhof fuhren wir zur Station Berngardowka in Richtung Irinowka. Aber für mich schien es damals wie eine ziemlich spannende weite Reise.
So befanden Sie sich am 22. Juni 1941, dem Tag des Angriffs der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, in einem Pionierlager. Wie haben Sie vom Kriegsbeginn erfahren?
Niemand hat uns irgendetwas gesagt, obwohl am Himmel schon Militärflugzeuge zu sehen waren und wir beobachteten sogar, wie Fallschirmjäger aus den Flugzeugen sprangen. Dann wurden an den Ständen im Pionierlager Zeitungen („Iswestija“, „Leningradskaja Prawda“, „Smena“, „Pioneerskaja Prawda“ usw.) ausgehängt, aus denen eindeutig klar wurde, dass der Krieg angefangen hatte.
Wie hat sich das Leben im Pionierlager verändert?
Bald kamen die Mütter ins Lager, um ihre Kinder mitzunehmen… Sie brachen in Tränen aus, sie heulten und erzählten Geschichten über die Deutschen, die Pioniere packten und aufhängten. Das große Pionierlager für 350 Personen wurde schnell leer: Nur die Erzieher und die Kinder, die noch nicht von ihren Eltern abgeholt worden waren, blieben übrig. Wir waren etwa 10-15 Personen. Für mich waren diese Tage sehr schwierig. Ich fühlte mich, als wäre ich von allen zurückgelassen worden, als wäre ich ein Waisenkind. Denn meine Eltern waren im Süden bei einem großen sozialistischen Bauprojekt beschäftigt und, da sie viele Kinder hatten, ließen sie mich in Leningrad bei meinen Großvater und Großmutter zurück. Aus dem Lager wurden wir aber bald in die Stadt zurückgebracht. Zu meiner großen Freude empfing mich der Großvater am Bahnhof. Das Leben in der Stadt verlief wie gewohnt, und die Last des Krieges war im alltäglichen Leben noch kaum spürbar.
Wie haben Sie diese Zeit, als die Kriegsfront noch weit entfernt war, wahrgenommen?
Natürlich waren wir sicher, dass wir bald gewinnen würden und waren deshalb begeistert. Die sowjetische Propaganda der Vorkriegsjahre beteuerte, dass der Krieg – aufgrund der Überlegenheit des Sozialismus – schnell und ausschließlich auf dem Territorium des Feindes geführt würde und der Sieg mit minimalen Verlusten an uns gehen würde. Die Worte aus der Radioansprache von Wjatscheslaw Molotow vom 22. Juni 1941 „Unsere Sache ist richtig, der Feind wird besiegt, der Sieg wird unser sein“ wurden in diesen ersten Tagen und für den gesamten Krieg zum Motto des ganzen Landes.
Was hat sich geändert, als die Kämpfe näher rückten und nachdem die Blockade über die Stadt verhängt wurde?
Auf Befehl der Hausverwaltungen wurden alle Fenster der Stadt mit einem Kreuzmuster aus Papier verklebt – es sollte das Glas vor der Zerstörung bei Bombenexplosionen schützen. Die Situation verschärfte sich von Tag zu Tag. Für die Lebensmittelversorgung wurde ein Kartensystem eingeführt. Das bedeutete Mangel an Lebensmitteln und langes Anstehen in Warteschlangen. Als Folge der Luftangriffe vom 8. und 10. September 1941 wurden die Lebensmittellager von Badaev zerstört. Das Feuer wütete drei Tage und der Rauch war von weiten Teilen der Stadt sichtbar. Für die Bürger wurde dieses Ereignis zum Vorboten des Hungers. Viele Leute kamen anschließend zu den Lagerhäusern und sammelten die verbrannte Erde ein. Sie versuchten die Erde zu kochen und zu sieben, um den Rest des Zuckers herauszuholen.
Wie ging es für Sie in den ersten Monaten der Blockade weiter?
Ich lebte in der Familie meines Großvaters und meiner Großmutter väterlicherseits. Wir lebten auf der Petrograder Seite [ein historischer Stadtteil von Sankt Petersburg, Anm. der Redaktion]. Dort habe ich auch meine Kindheit verbracht. Um uns während der Blockade zu ernähren, mussten wir für Lebensmittel und Sammelkarten Schlange stehen. Nach dem Beginn der Hungersnot verschwanden alle Hunde, Katzen und Vögel aus der Stadt. Es gab einen katastrophalen Mangel an Nahrung. Wir haben alles gegessen, was wir finden konnten. Wir haben zum Beispiel Ledergürtel gekocht oder Tischlerleim gegessen…
Wie sah Ihr Alltag zur Zeit der Blockade aus?
Die Schulen waren geschlossen. Um mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben, hörten wir Radio. Im Radio sendete man die Geräusche des Metronoms: Das beschleunigte Ticken signalisierte die Luft- und Artillerieangriffe. Ich dachte mir: „Wenn ich noch den Klang des Metronoms höre, so bin ich noch am Leben“. Ich hatte keine Kraft zu lesen oder zu schreiben. Alle meine Gedanken konzentrierten sich auf den Hunger. Wir waren in einem Zustand des Hungers, der für einen normalen Menschen schwer vorstellbar ist. Erst als wir evakuiert wurden, konnten wir wirklich dessen bewusst werden, was mit uns in den letzten Monaten geschehen war. Einige schrieben Tagebücher, aber das waren nur wenige. Es war körperlich schwierig zu schreiben, und, wie Sie wissen, hatten die Menschen aus politischen Gründen Angst vor dem Schreiben oder sie wollten einfach nicht über die schreckliche Dinge schreiben.
Es ist bekannt, dass der Winter 1941-1942 besonders kalt war. Die Temperaturen im Januar 1942 sanken auf minus 30 Grad Celsius. Wie ging es weiter, als der starke Frost kam?
Mit Beginn der Kälte begannen die Menschen alles, was nur brennbar war, zu verbrennen. Dann erteilten die Behörden den Auftrag alle Zäune und Holzgebäude für die Brennholzsammlung zu demontieren. Viele Häuser waren bereits leer. Entweder gingen ihre Bewohner an die Front, wurden evakuiert oder sie waren bereits gestorben. Da mein Großvater und ich – meine Großmutter war auch schon gestorben – in einem Holzhaus wohnten, wurden wir an einem Tag einfach auf die Straße vertrieben. Glücklicherweise wurden wir von meinem Onkel, dessen zwei jüngere Kinder zu jener Zeit gestorben waren, in das Zimmer seiner Gemeinschaftswohnung gebracht. Eines Tages traf eine Granate unser Zimmer. Die Granate explodierte nicht, aber hinterließ einen so großen Spalt in der Wand, dass wir uns buchstäblich wieder auf der Straße befanden. Es gelang uns jedoch, in ein anderes Zimmer im nächsten Haus zu ziehen, in dem wir bis zur Evakuierung wohnten.
Was hat Ihnen geholfen zu überleben?
Mein Großvater und ich wurden dank meines Onkels vor dem Verhungern gerettet. Mein Onkel diente in der paramilitärischen Feuerwehr. Dazu muss man wissen, dass die Normen für die Ausgabe von Brot fünfmal gesenkt wurden, so dass ich im November nur noch 125 Gramm Brot pro Tag erhalten habe. Mein Onkel erhielt als Feuerwehrmann eine erhöhte Ration, die er mit uns teilte. Darüber hinaus bekam seine Tochter, meine Cousine, eine Zusatzration, da sie im Luftabwehrministerium tätig war. Sie verteidigten die Stadt vor dem Angriff des Feindes aus der Luft. Zum Beispiel stellten sie Sperrballons im Himmel auf, damit die deutschen Flugzeuge nicht unversehrt über die Stadt fliegen konnten. Darüber hinaus neutralisierten sie Bomben und Granaten, die auf Wohngebäude trafen. Was sie taten hat uns zudem eine große moralische Unterstützung gegeben.
Die Blockade dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, d.h. 871 Tage. Wie viele Tage blieben Sie in der belagerten Stadt?
Etwa Mitte Februar 1942 wurden wir halb lebendig bzw. eher halb tot über die sogenannte „Straße des Lebens“ über den Ladoga-See evakuiert. Wir fuhren in kleinen Lastwagen auf der zugefrorenen Oberfläche des Sees. Die Straße wurde von deutschen Flugzeugen ständig beschossen – viele Lastwagen mit Menschen brachen in das Eis ein und landeten schnurstracks auf dem Seeboden. Auf der anderen Seite des Sees wurden die Überlebenden aufgewärmt, mit ein bisschen Essen versorgt und in Güterwagen gesetzt. Diese Wagen bestehend aus Schiebetüren, Holzbetten und etwas Stroh statt einer Matratze waren eigentlich noch vor dem Krieg für den Transport von Vieh gedacht, wurden aber seit Kriegsbeginn für die Evakuierung von Menschen angepasst. Sie brachten uns nach Sibirien. Die Schrecken hörten nicht auf, denn wir wussten, dass die Züge vor und nach uns von den Deutschen zerbombt wurden…
Die Blockade von Leningrad hat nach Schätzungen 600.000 bis 1.200.000 Menschen das Leben gekostet und nimmt unter den Verbrechen der Nationalsozialisten an der Ostfront einen besonders eklatanten Platz ein. Was möchten Sie der jungen Generation mitgeben, die vielleicht wenig über die Blockade weiß oder sogar noch nie von ihr gehört hat?
Die Blockade war die schrecklichste und unbeschreiblichste Folter. Die Nazis haben eine Millionenstadt verhungern lassen. Wenn Menschen gefoltert werden wie im Wasser ertränkt oder mit Feuer verbrannt, so ist es schrecklich, aber es geschieht immerhin relativ schnell. Die Hungerfolter ist viel schlimmer, weil es eine langsame Folter ist. Der Körper verkümmert allmählich und verliert nach und nach seine Kräfte. Auf den Straßen sah man Menschen, die nur aus Haut und Knochen bestanden, aber selbst von der Haut an ihnen war sehr wenig da – als ob Skelette auf den Straßen herumliefen… Der Hunger war schrecklich. Man will immer essen, aber es gibt nichts zu essen. Man kann Wasser trinken, aber es hilft nur für kurze Zeit, dann schwellen einem die Gliedmaßen an. Die Kraft lässt nach, am besten legt man sich hin oder bleibt für kurze Zeit sitzen. Alle meine Gedanken kreisten um den Hunger. Es ist unmöglich, sich abzulenken. Hunger und Kälte verursachten ein Gefühl völliger Verzweiflung. Etwas ändert sich radikal im menschlichen Dasein. Ich bin glücklicherweise den Menschen entkommen, die zu Kannibalen wurden. Aber die Fälle von Kannibalismus waren allen bekannt, davon gab es leider viele…
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Wir Kinder des Krieges setzen uns dafür ein, dass die Menschen von den Schrecken erfahren und dass sich so etwas nie wiederholt!
Das Interview führte Sergei Zubeerov