„Armes Gesundheitssystem, bist Du krank, dass Du nicht mehr leisten kannst?“
„Für seinen Beruf zu brennen ohne sich verheizen zu lassen“ – diese Herausforderung teilen Ärzte und Pflegekräfte in Deutschland und Russland. Die jährlich 60 Millionen Überstunden der in deutschen Krankenhäusern angestellten Ärzte waren nur eines der vielen Beispiele, das den 105 Zuschauer*innen beim Moskauer Gespräch Online am 13. April eindrücklich vor Augen führten: In beiden Ländern stößt in den letzten Jahren die Krankenversorgung auch ohne die Corona-Pandemie an ihre Leistungsgrenzen. Insgesamt entfaltete sich die Frage des Abends „Armes Gesundheitssystem, bist Du krank, dass Du nicht mehr leisten kannst?“ als ein sehr komplexes facettenreiches Thema.
Da mehr Personal, höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen unmittelbar finanzielle Auswirkungen haben würden, verglich das Experten-Panel aus Dr. Susanne Johna (Marburger Bund), Dr. Tatiana Vukolova (Rödl & Partner, Moskau), Knut Lambertin (DGB) und Andrey Konoval (Interregionale Gewerkschaft für Gesundheitspersonal Aktion, Moskau) sehr intensiv den Aufbau und die Finanzierung der deutschen und russischen Gesundheitssysteme. In der Zusammenschau diskutierten sie kontrovers die Frage, wieviel privater Wettbewerb hilfreich sei und wann eine notwendige Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung in negative Kommerzialisierung kippe. Einig waren sie sich darin, dass sich in beiden Ländern nicht ausreichend Angestellte im Gesundheitssektor gewerkschaftlich organisierten.
Moderiert von Kerstin Hilt, Deutsche Welle, beleuchteten sie zusätzlich eine Reihe weiterer Aspekte: Sie beschrieben in beiden Ländern die Schwächen verschiedener politischer Lenkungsmechanismen auf die Gesundheitswesen. Der Präventionsförderung an Stelle der reaktiven Krankenpflege attestierten sie für beide Länder starken Nachholbedarf. Im Gegensatz zu Russland, das bereits erfolgreich in die Digitalisierung des Gesundheitssektors investiert habe, ändere in Deutschland die späte und schleichende Umsetzung der E-Patientenakte noch nichts an der parallelen Über-. Fehl- und Unterversorgung bei der Medikamentierung. Ob die in Österreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland praktizierte Selbstverwaltung im Gesundheitswesen ein „Exportschlager“ für Länder wie Russland wäre, versahen alle mit einem großen Fragezeichen. Aber wieviel das Gut Gesundheit kosten darf, betrachteten sie übereinstimmend als eine Wertefrage und politische Grundentscheidung. Großer Verantwortung widmet sich auch das nächste Moskauer Gespräch Online am 12. Mai zur Frage „Was geschah vor 80 Jahren? – Erinnerung und Erinnern als Zukunftsgestaltung in Europa“.