Unter dem Thema »Die Internet-Gesellschaft – Verheißung oder Verirrung?« luden vom 17.-19. Juni 2012 der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Matthias Platzeck, und das Deutsch-Russische Forum e.V. zu den 14. Potsdamer Begegnungen unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Dr. h.c. Joachim Gauck ein.
Dr. Ernst-Jörg von Studnitz, Vorsitzender des Vorstands des Deutsch-Russischen Forums, Wladimir Grinin, Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter der Russischen Föderation, Dr. Emily Haber, Staatssekretärin Auswärtiges Amt, und Andreas Böldt, Senior Referent der Wintershall Holding GmbH, und der Stellevertretende Ministerpräsident des Landes Brandenburg Dr. Helmuth Markov hießen die deutschen und russischen Teilnehmer der Konferenz, Kenner und Experten aus Politik, Wissenschaft und Kultur, zu den seit 14 Jahren bestehenden Potsdamer Begegnungen willkommen.
Nach Impulsvorträgen von Dr. Michael Naumann, Staatsminister a.D. für Kultur und Medien, und Prof. Dr. Michael Fedotow, Berater des Präsidenten der Russischen Föderation, Vorsitzender des Rates beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Entwicklung von Zivilgesellschaft und Menschenrechten, am ersten Tag der Konferenz, diskutierten die Teilnehmer unter der Moderation von Nina Happe über die politischen, wirtschaftlichen, psychologischen und persönlichen Dimensionen des Internets.
So bot beispielsweise der Journalist Christoph Koch unterhaltsame Einblicke in die Welt unserer heutigen Internet-Gesellschaft, indem er dieser für einige Wochen entsagte und seine Erfahrungen in seinem Buch »Ich bin dann mal offline« zusammentrug. Dabei ist das für viele bekannte Phänomen des Phantom-Vibrierens oder –Klingelns des Mobiltelefons, obwohl es ausgeschaltet ist, nur eine von vielen Erscheinungen, die Koch bei diesem Experiment bewusst geworden ist.
Auch Prof. Dr. Alexander Archangelskij, Professor an der Fakultät für Medienkommunikation der Höheren Schule für Wirtschaft in Moskau, las aus seinem Buch »Held der zweiten Ebene« («Герой Второго Уровня») und beschrieb darin metaphorisch unter anderem die Entwicklung des Alltags in den letzten hundert Jahren: Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Familie noch gemeinsam an einem runden Tisch zusammensaß, die Gesichter einander zugewandt, saß die Familie in den fünfziger Jahren nebeneinander, den Blick auf den Fernseher gerichtet und mit Unterhaltungen über die Protagonisten der Serien, die sie gemeinsam ansahen. In der dritten Szene, die in der heutigen Zeit spielt, sitzt die Familie jedoch nur noch Rücken an Rücken vor dem jeweils eigenen Computer: »allein sein mit allen«.
Die neuen Kommunikationswege über das Internet sind so schnell geworden, dass die Politik an manchen Stellen nicht nachkommt. Dabei sei das Internet aber nur Ausdruck und »ein Spiegelbild der Gesellschaft« sowohl im Positiven, als auch im Negativen, so Martin Delius, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und der Piratenpartei. Es sei notwendig, dass bestimmte Regularien eingeführt werden, beispielsweise in Bezug auf Datenschutz. Dennoch bietet das Internet große Möglichkeiten, insbesondere im demokratischen Beteiligungsprozess. Hier sei Offenheit und Transparenz ein wichtiges Moment, das nicht die Privatsphäre des einzelnen auflösen, sondern die politischen Dimensionen und Prozesse nachvollziehbar machen möchte.
Der zweite Tag der 14. Potsdamer Begegnungen startete mit einem eindrucksvollen Ausschnitt aus dem Film »Die Essenz des Guten« von Maxim Kuphal-Potapenko, in dem die gerade verlassene Protagonistin Lena über das soziale Netzwerk Facebook hautnah mitbekommt, wie ihr Ex-Freund nun sein Leben ohne sie verbringt. Die Verlagerung des realen Lebens in die virtuelle Welt als alltäglicher Umstand in der heutigen Gesellschaft wurde zum Thema des Filmes gemacht.
Uwe Buermann, Pädagogisch-therapeutischer Medienberater am Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie, betonte, dass insbesondere soziale Medien wie Facebook für die ältere Generation wesentlich unproblematischer seien als für die jüngere Generation. Er berichtete aus seinem Erfahrungsschatz als Entwickler des Lehrplans für »Computerkunde« an Schulen: Die Herangehensweise des einander Kennenlernens habe sich durch die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke völlig verändert. Während man sich früher tatsächlich persönlich kennenlernte, wird nun vorher im Internet »gecheckt«, wer genau die Person ist, die man kennenlernen möchte. Dabei seien viele Jugendliche der Meinung, dass sich in den sozialen Netzwerken eben nicht ihre Persönlichkeit wiedergespiegelt werde. Buermann stellt die streitbare These auf, dass die heutige Gesellschaft sich in einer »Verräterkultur« befinde. Hier hätten Phänomene wie Wikileaks und ähnlichen Internetformen einen Beitrag dazu geleistet und ein gesellschaftliches Mobbing entwickelt. Das Phänomen der Öffentlichkeit sei nicht unbedingt nur negativ zu sehen, aber es stelle sich nun für jeden einzelnen noch deutlicher die Frage, wer loyal sei und wem man vertrauen könne. Dies sei der Faktor, der für die Zukunft entscheidend sein wird: wie wird sich die Gemeinschaftsfähigkeit entwickeln und welche Qualität wird sie haben.
Die Netzkünstlerin Dr. phil. Cornelia Sollfrank stellte zum Ende der Konferenz das Projekt »net.art generator« vor: Das Programm sucht über die Google-Suchmaschine mit Hilfe eines bestimmten Suchbegriffes mehrere Bilder, aus denen nach dem Zufallsprinzip Collagen automatisch generiert werden.
In der Abschlussdiskussion wurde deutlich, dass das Thema »Internet« schwer einzugrenzen ist, ob auf wirtschaftlicher, politischer oder künstlerischer Ebene – die unterschiedlichen Meinungen und Positionen während der Konferenz zu Transparenz, Datenschutz oder Kommunikationsformen spiegele auch die gesellschaftliche Diskussionskraft wieder. Diese sei jedoch notwendig, um eine sinnvolle Balance zwischen realem und digitalem Leben, das heute nicht mehr wegzudenken ist, zu finden.
Die Beiträge und Konklusionen der einzelnen Teilnehmer der zweitätigen Konferenz werden wie in jedem Jahr in einer Publikation zusammengetragen. Die Veröffentlichung der Publikation wird auf der Homepage des Deutsch-Russischen Forums e.V. angekündigt. Publikationen der vergangenen Potsdamer Begegnungen können sie hier einsehen und bestellen.
Das deutsch-russische Kultur- und Dialogforum Potsdamer Begegnungen führt jährlich namhafte Politiker, Wissenschaftler, Kulturschaffende und Intellektuelle beider Länder zusammen. Ziel der Gespräche ist, aktuelle gesellschaftliche Diskurse aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus zur Diskussion zu stellen.