Wer nach russlandkritischen Stimmen in Deutschland sucht, hat es derzeit nicht schwer: Die Russen sind nach einhelliger Meinung homophob und fremdenfeindlich, sie geben gemessen an der sonstigen wirtschaftlichen Lage des Landes absurd viel Geld für Militär aus, haben die Krim überfallen und annektiert, verdienen daher die Wirtschaftssanktionen – und reiche Russen können sich im Ausland eh nicht benehmen. Bis auf eine Minderheit am rechten Rand, die sich bevorzugt über russische Medien mit einem gewissen Ruf informiert, ist die allgemeine Stimmung definitiv nicht auf Seiten des größten Landes der Erde. Andersherum sieht es nicht viel besser aus. Die Situation scheint auf beiden Seiten festgefahren zu sein.
„Russland und der Westen – Wege aus der Sackgasse“ lautete folgerichtig der Titel einer von der SPD-Fraktion initiierten Podiumsdiskussion zum Thema im Bayerischen Landtag. Der sicherheitspolitische Sprecher der Fraktion Prof. Dr. Peter Paul Gantzer hat hochkarätige Experten eingeladen: Der frühere Ministerpräsident Brandenburgs, Matthias Platzeck, ist heute Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, Generalleutnant a.D. Kersten Lahl ist Leiter des Forums München der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, General a.D. Klaus Naumann, ist ehemaliger Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, Dr. Rudolf Adam schießlich war Gesandter in Moskau und London. Mit über 300 Gästen ist der Senatssaal des Bayerischen Landtags voll besetzt, das zerrüttete Verhältnis macht vielen zu schaffen.
In seinem Eingangsstatement bedauerte Kersten Lahl die Entwicklung ausdrücklich. „Vor einem Vierteljahrhundert glaubten wir geradezu euphorisch,der Ost-West-Konflikt sei endgültig vorbei. Wir hofften auf eine Welt voller garantierter Friedfertigkeit.“ Doch auch abgesehen von Irritiationen mit Russland versinke die Welt gegenwärtig um Europa herum im Chaos, weltweiter Frieden sei weit entfernt.
Der Ostdeutsche Matthias Platzeck vergleicht die momentane Situation in ihrer Ernsthaftigkeit gar mit dem Vorboten des ersten Weltkrieges: „Niemand wollte einen Krieg, und schlafwandlerisch hat man sich in einen hineinmanövriert.“ Seine Aufgabe als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums habe er auch deshalb angenommen, um gegebenenfalls einen Mosaikstein zu einem bestehenden Frieden beitragen zu können. Für Platzeck liegen die Verfehlungen zwischen Russland und Deutschland auf beiden Seiten – umso tragischer, weil es seiner Meinung nach keine zwei Länder gebe, die über Jahrhunderte so eng verzahnt waren, im Guten wie im Schlechten.
Viele der heutigen Verfehlungen hätten, so Platzeck, ihren Ursprung in Kränkungen gegenüber den Russen. Unter Breshnew in den 70ern und frühen 80ern sei Russland zwar wirtschaftlich auch am Boden gewesen, aber militärisch, sportlich und in der Raumfahrt im direkten Konkurrenzkampf mit den USA. Nach der Wende hingegen zog Russland ohne Gegenleistung die Trupppen aus Deutschland ab – was als Niederlage empfunden werden musste – und wurde gleichzeitig im internationalen Vergleich bedeutungslos. Dass Obama Russland vor Jahren als „Regionalmacht“ verspottete, fügte dem Selbstwertgefühl der ohnehin gedemütigten Russen weiteren irreparablen Schaden zu. Ein Präsident Putin, der nichts gegen die wirtschaftliche Not des Landes unternehme, sei trotz allem weiterhin beliebt: „Wenn Putin in den Sommerurlaub geht, zieht er als erstes sein Hemd aus und erschießt einen Bären“, fasst Platzeck polemisch zusammen. „Ein deutscher Politiker müsste im September nach so einer Aktion zurücktreten, Putin hingegen hat zehn Beliebtheitspunkte mehr.“ Die Neigung zu Militarismus, Nationalismus und einer Staatskirche, die sich derzeit in Russland beobachten ließe, sei eine logische Konsequenz aus der Entwicklung. Im Vergleich dazu sei auch etwa Trump nicht die Ursache, sondern ein Symptom der Stimmungslage in der US-amerikanischen Bevölkerung. – „Ich werde häufig als „‚Russenversteher‘ diskrediert“, stellt Platzeck bitter fest. „Es ist verrückt, dass das Wort ‚Versteher‘ eine Beleidigung sein soll, während es an Russlandkritik hierzulande nicht mangelt.“
Einig sind sich die Diskussionsteilnehmer – in diversen Abstufungen ihrer „Russlandfreundlichkeit“, wie Platzeck es ausdrückt – darin, dass es ein „Weiter so“ nicht geben darf, weder von russischer Seite noch von deutscher Seite aus. Der frostigen Stimmung sei nur mit Annäherung von beiden Seiten beizukommen, etwa mit Engagement im heuer stattfindenden Städtepartnerschaftsjahr zwischen Deutschland und Russland. Dass Russland und Deutschland in einigen Themen derzeit unversöhnlich seien – etwa in der Krimfrage – dürfe kein Hindernis sein, sich auf anderen Feldern wieder näher zu kommen. Kersten Lahl weist darauf hin, dass in den nächsten zehn Jahren ein Umdenken in der russischen Wirtschaftspolitik zu erwarten sei; und dass gleichzeitig Russland China dann nicht näher stehen dürfe als dem Westen.
„Eines muss endlich klar sein: Die Russen werden nicht wie die Deutschen, nur weil der Kommunismus hinter ihnen liegt“, betont Platzeck. „Russland ist anders… Deutschland auch.“
Sehen Sie hier die Rede von Matthias Platzeck.
Text und Fotos: Bayern SPD Landtagsfraktion