Am 30. September fand eine weitere Veranstaltung unserer Reihe „Forum im Dialog“ in den Räumlichkeiten des Palais Populaire in Berlin statt. Im ersten Teil des Abends nutzten die zahlreichen Gäste die Möglichkeit, exklusiv unter der Leitung von Svenja Gräfin v. Reichenbach, Direktorin vom Palais Populaire, durch das neue Haus und die gegenwärtige Ausstellung „Summer of Love“ geführt zu werden. Im zweiten Teil des Abends stand ein Gespräch über die Kraft, Wirkung und Wahrnehmung sozialer Utopien in Ost und West im Mittelpunkt. Die russische Theaterkritikerin und Kunstschaffende Marina Davydova hat mit Ihrem Stück „Checkpoint Woodstock“ im Hamburger Thalia Theater einen vielbeachteten Beitrag zu diesem Thema geschaffen.
Marina Davydova sprach in ihrem Impulsvortrag über die grundlegenden Unterschiede der Gegenkultur in den USA und in der Sowjetunion während der Sechzigerjahre. Die westlichen Sozialutopien standen unter dem Einfluss der idealisierten Wahrnehmung der kommunistischen Länder. Viele Hippies und Neue Linke nahmen in Amerika Kurs auf die vermeintlich bessere sozialistische Zukunft. Die sowjetische Gegenkultur war hingegen von der Nostalgie nach dem vorkommunistischen Russland umweht. Noch ein Unterschied: Während sich die jungen Leute im Westen massenhaft auf den riesigen Festivals wie Woodstock sammelten, trafen sich die wenigen sowjetischen Andersdenkenden vor allem in den kleinen Gemeinschaftswohnungen, den sogenannten „Kommunalkas“. Trotz alledem wurde „Woodstock“ auch in der Sowjetunion zu einem Symbol des neuen Lebensgefühls: „Der Geist dieser Epoche erreichte uns wie ein Virus über den Ozean trotz der fest abgeriegelten Grenzen“, sagte Davydova.
Während der anschließenden Podiumsdiskussion sprachen Wladimir Velminski und Marina Davydova detailliert über die russische kulturelle Situation nach dem Chrustschow‘schen Tauwetter. Die Jugend der 60er Jahre war vom Ende der Massenrepressionen, den Rehabilitierungen und der Entlarvung des Personenkults um Stalin beflügelt. Die Dissidenz wurde möglich und mehrere Bereiche der Kultur entfalteten sich zur vollen Blüte. „Vor allem das Theater, betonte Davydova, erfuhr in dieser Zeit einen großen Umschwung und ersetzte für viele Bürger die nicht existierende freie Presse“. Dennoch blieb der politische und soziale Umbruch aus – zum einen wegen des totalitaristischen Charakters des Systems und zum anderen wegen der ins kollektive Gedächtnis eingravierten Schrecken in Folge der Revolution von 1917.
Viele Anregungen zum Dialog beider Diskutanten kamen aus dem Publikum. So interessierte sich einer unsere Gäste, inwiefern die ökologische Bewegung von heute eine nationenübergreifende Idee liefern kann. Davydova äußerte sich skeptisch mit Blick auf den Mangel des ökologischen Bewusstseins in den großen Ländern wie Russland und China. Ein anderer Gast des Abends erkundigte sich nach der Möglichkeit, eine Parallele zu ziehen zwischen dem „Summer of Love“ in den Sechzigerjahren in Amerika und den vielen Rockkonzerten, die in Russland am Anfang der Neunzigerjahre stattgefunden haben. Dem stimmte Davydova mit einigen Vorbehalten zu.
Anschließend fand ein Abendempfang statt. Die Veranstaltung wurde mit freundlicher Unterstützung der Deutsche Bank AG und des Palais Populaire durchgeführt.

Marina Davydova (Auf dem obigen Photo links) ist Chefredakteurin der Zeitschrift TEATR und künstlerische Leiterin des Moskauer NET-Festivals.
Wladimir Velminski (Auf dem obigen Photo rechts) ist Leiter des Fachbereichs »Geschichte und Theorie medialer Regime in Osteuropa« an der Bauhaus Universität Weimar und Verfasser der zahlreichen Publikationen zur Kulturgeschichte Osteuropas.