Wir teilen unsere Erinnerungen an fatale Ereignisse der Vergangenheit, um uns vor Kriegen der Gegenwart und Zukunft zu schützen. Vor allem den älteren Generationen liegt es heute am Herzen, die Erinnerungskultur in Deutschland aktiver zu gestalten. Die Besorgnis über das Vergessen stand im Zentrum der Forumsfahrt nach Seelow. Dort hatte 1945 die größte Schlacht auf deutschem Territorium stattgefunden, bevor die Rotarmisten die Deutschen zur Kapitulation zwangen.
Anlässlich des 72. Jahrestages des «Tag des Sieges» veranstaltete das Deutsch-Russische Forum e.V. am 10. Mai einen Ausflug in die Gedenkstätte Seelower Höhen. Interessierte Mitglieder waren dazu eingeladen, das Forum zu der Kranzniederlegung an dem Denkmal zu begleiten und an der anschließenden Führung durch die Gedenkstätte teilzunehmen, sowie einer abschließenden Diskussionsrunde zu dem Thema «Erinnerungskultur».
Über 30 TeilnehmerInnen trafen sich am Mittwochmorgen am Berliner Hauptbahnhof, um gemeinsam in das 75 Kilometer entfernte Seelow zu fahren. Das Forum freute sich, auch fünf Schüler und Schülerinnen der Maxim Gorki-Schule in Berlin dabeizuhaben. Diese hatte das Forum, vor allem im Sinne des Tagesthemas, speziell zu dem Ausflug eingeladen.
Nach einem gemütlichen Imbiss im Veranstaltungsraum der Gedenkstätte beging die Gruppe den Weg zum Denkmal, wo in Gedenken an die gefallenen Soldaten der Blumenkranz niedergelegt wurde.
Etwa eine Million Soldaten kämpften in der Nacht vom 16. April 1945 vor den Seelower Höhen um den Ausgang des Krieges – die große Mehrheit von ihnen auf sowjetischer Seite. Zwei Monate zuvor hatten die Rotarmisten ihre Großoffensive in Küstrien an der Donau begonnen, um in den 80 Kilometern nach Berlin den letzten deutschen Widerstand zu zerschlagen. Bis heute ist man sich nicht sicher, wie viele Soldaten in dieser Schlacht fielen, die Zahlen reichen von 30.000 bis zu 200.000.
An jene Gefallenen erinnert das Denkmal mit der vier Meter hohen Bronze-Statue, das Stalin noch im selben Jahr errichten ließ. Die TeilnehmerInnen der Forumsfahrt gedachten der Kriegsopfer an diesem Tag mit roten Nelken.
In zwei Gruppen wurden sie anschließend über das Gelände und durch die historischen Fakten geführt. Die beiden Museumsführer schilderten die Gegebenheiten so lebhaft, dass man bei dem Ausblick auf das damalige Schlachtfeld den Kampf geradezu vor Augen hatte. Die Jungen, die an diesem Tag häufig in das Zentrum der Diskussionen rückten, waren ebenso bewegt wie „die Alten“. Die Geschichte, die in der Schule häufig als trockenes Fach gilt, nahm hier eine spannende und beängstigende Gestalt an, die sich auch denen einprägte, die keine persönliche Verbindung mehr zu den Ereignissen haben.
Auch das Thema der nachfolgenden Diskussionsrunde mit Historikern, dem Landrat und zwei geladenen russischen Generälen betraf die veränderte Gedenkkultur. Diese leide zum einen unter der politischen Instrumentalisierung und zum anderen unter dem sinkenden Interesse der jüngeren Generationen, so Domke, Vorstandsvorsitzender der Stiftung West-Östliche Begegnungen. Die Gäste diskutierten über die Gründe für diese Veränderungen und über Lösungsvorschläge. Sowohl General Troschin als auch Oberst Burmistrow, beide Mitglieder des Veteranenverbandes der Russischen Föderation, machten darauf aufmerksam, dass in Russland fast jede Familie Kriegsopfer hat. Die Erinnerungen scheinen allein aus diesem Grund stärker weitergegeben zu werden – auch die Jüngeren fühlen sich noch persönlich betroffen. Nicht nur das nationale Gedenken der Ereignisse seien hierbei von Bedeutung, so Dr. Domke: Eine ehrliche Verständigung über den Ausgang des Krieges sei besonders wichtig für den Friedenserhalt. Auch der Historiker und Buchautor Lakowski plädierte für eine Berichterstattung aus allen Perspektiven der Betroffenen. „In Brandenburg soll nun der Geschichtsunterricht abgeschafft werden. Das wäre eine Katastrophe!“
Einig waren sich die Diskutierenden, dass das Problem durch gemeinsame Gespräche begangen werden muss. Verantwortlich dafür seien vor allem diejenigen, die ihre Erinnerungen weitergeben. Das Problem liege in der Bildung generell, unterstreicht Landrat Schmidt. „Wir müssen die Jüngeren wieder mehr mit den Weltkulturen vertraut machen!“
Dem Vorwurf des fehlenden Interesses widersprachen die anwesenden SchülerInnen nach der Veranstaltung. Das Problem liege im Lehrplan. „Wir wissen alles über die Französische Revolution. Über die eigene Geschichte lernen wir fast nichts.“ Die Gedenkstätte Seelower Höhen hingegen trägt einen wichtigen Teil zu einer aktiveren Gedenkkultur bei: Die Erinnerungen, die für die meisten Menschen mittlerweile nicht mehr die eigenen sind, noch einmal zum Leben zu erwecken.
Ein Beitrag von Ines Henrich