Im März dieses Jahres stellte Prof. Dr. Hanne-Margret Birckenach, Trägerin des Göttinger Friedenspreises 2023, ihre Thesen zum Thema „Frieden wagen. Wie Dialogarbeit funktioniert.“ vor. Prof. Dr. Birckenbach publizierte das Buch „Friedenslogik verstehen“ (erschienen im Wochenschau Verlag) und stellte daraus Ihre Kernthesen in den Kontext der aktuellen Weltkonflikte. Ihr besonderes Augenmerk widmete sie dem Thema des Dialogs, der unter verschiedenen Aspekten der Konfliktforschung analysiert wurde. Lesen Sie im Folgenden die Ausfhrungen von Prof. Dr. Birckenbach.
Hanne-Margret Birckenbach
Frieden wagen. Wie Dialogarbeit funktioniert.
Dialog mit Russland wird heute oft als aussichtslos, unmoralisch und sogar gefährlich bezeichnet. Dass die Abwesenheit von Dialog die Kampfbereitschaft des Gegners stärken, die eigene Position schwächen und Zerstörungen aller Art nach sich ziehen, also Gewalt weder einhegen noch beenden kann, gerät dabei leicht aus dem Blickfeld. Deutschland und Russland haben entschieden, ihre diplomatischen Beziehungen zwar einzuschränken, aber nicht abzubrechen. Der deutsche Botschafter in Moskau pflegt daher weiterhin professionelle Kontakte zur russischen Regierung. Nach eigenen Aussagen in einem auf der Botschaftsseite zugänglichen Interview vom 24. Januar 2024 versucht er, Russland zu verstehen und im Auswärtigen Amt zu erklären, was er verstanden hat. Zu seiner Tätigkeit gehöre es auch, weiterhin der deutschen Kriegsverbrechen während der Leningrader Blockade zu gedenken, sowie die russische Seite daran zu erinnern, dass sie zur Achtung des Völkerrechts zurückkehren solle.
Unbestritten gehört dies zu den Aufgaben des Botschafters, eines Beamten im diplomatischen Dienst. Umstritten ist dagegen, ob ähnliche Bemühungen auch von zivilgesellschaftlichen Akteuren weitergeführt werden sollen, solange der Krieg gegen die Ukraine andauert. Die Bundesregierung hat erklärt, sie wolle Grundstrukturen der Zusammenarbeit mit der russischen Zivilgesellschaft erhalten und Projekte fortführen. Dies solle ohne Beteiligung von staatlichen und staatsnahen Akteuren geschehen. Wie das funktionieren soll, vermag ich allerdings nicht zu verstehen. Zu den Tatsachen gehört: Das Interesse an einem Austausch schrumpft in Deutschland aus vielen Gründen. Die global orientierte junge Generation hat andere, leichter erreichbare und attraktivere Reiseziele vor Augen, Orte, an denen man Englisch oder Spanisch spricht.
Sofern deutsch-russische Begegnungen dennoch weiterhin stattfinden, bleiben sie ohne öffentliche Resonanz.
So haben auch viele Kommunen 2022 entschieden, ihre Partnerschaft mit russischen Kommunen „ruhen“ zu lassen – als wäre es ein Stück der russischen Regierung. Denn sie ist es ja, die seit vielen Jahren die Möglichkeiten zur zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit auf zunehmend repressive Weise beschränkt. Ich kann heute nicht beurteilen, welche Interessen in Russland am Erhalt der Infrastruktur für deutschrussische Beziehungen und einer aktiven Praxis bestehen. Zugleich kann ich mir aber auch nicht vorstellen, dass die Interessen in den Regionen und Kommunen erloschen sind. Um mehr und genaues zu wissen, muss man sich treffen und miteinander reden.
Frank Walter Steinmeier hat noch als Außenminister bei einem Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft Friedens-und Konfliktforschung – vom Manuskript leicht abweichend – gefragt, wie er seinen Kollegen bloß erklären könne, dass Dialog nicht bloß Gequatsche ist. Seine Bemerkung hat mich motiviert, etwas anders zu fragen, nämlich: Wenn es nicht bloß „Gequatsche“ ist, was ist es dann? Der griechische Begriff „Dialog“ wird meist mit „Fließen von Worten“ zwischen zwei oder mehreren Sprechern übersetzt. Aber was passiert, wenn Worte fließen? Wieso soll es möglich sein, durch Dialog etwas in Richtung Frieden zu verändern? Was kann man darüber wissen?
Wie in der Physik gibt es auch in der Friedens- und Konfliktforschung einen theoretischen und einen angewandten, experimentellen Zweig. Ich werde einige Überlegungen aus beiden Zweigen zusammenbringen. Sie beziehen sich auf Zweck, Wirkungsweise und Bedingungen von dialogischem Handeln.
1. Dialog hilft, Einsichten zu formulieren.
Beim Sokratischen Dialog geht es um Lehren und Lernen. Ein Wissender (wie Sokrates) hilft durch seine Art zu fragen einem Noch-Nicht-Wissenden dabei, zu einer Erkenntnis zu kommen, die dieser – so die Annahme – bereits in sich trägt. Es kann allerdings auch ganz anders kommen. Dann hilft eine eher unwissende Person, einer Person, die mehr weiß, mehr zu wissen. Diese Erkenntnis verdanke ich Heinrich von Kleist. In seinem Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (1805) empfiehlt er einem Freund, wenn dieser etwas wissen wolle, dem nächsten Bekannten „davon zu erzählen“. Kleist beschreibt dann wie seine zuhörende Schwester, von der er ein wenig abfällig bemerkt, dass sie nicht einmal das Gesetzbuch kenne, auf sein Erzählen körperlich reagiert. Wenn er etwa das Zucken ihrer Lippen bemerke,
gelinge es ihm, eine Idee zu formulieren, die bereits in ihm geschlummert habe.
Folgt man Sokrates und Kleist dann entstehen im Dialog durch die Gegenwart von fragenden, erzählenden und zuhörenden Personen sowie deren körperlich sichtbaren Reaktionen Einsichten, die diese Personen zuvor nicht formulieren konnten. In einer dialogischen Begegnung sehen Beteiligte folglich davon ab, einander zu belehren, was ihre Partner jeweils denken, verstehen und tun sollen. Vielmehr fragen oder erzählen sie, was ihnen durch den Kopf geht. Und sie beobachten, wie ihre Partner darauf reagieren. In der physischen Begegnung wird ihnen einiges von dem bewusst, was sie schon geahnt hatten. Dank der Reaktion auf das Gesagte können sie es nun auch besser und verständlicher formulieren. Im Dialog bestimmt nicht einer, vielmehr bestimmen alle Anwesenden darüber, was sagbar wird.
- Man stelle sich zum Beispiel vor, ein Bürgermeister aus Deutschland schreibt seinem Partner in Russland etwa so: „Aufgrund des russischen Aggressionskrieges kann ich meine Arbeit mit Ihnen nicht wie zuvor fortsetzen. Wir haben daher entschieden, die Partnerschaft ruhen zu lassen!“. Seine Unterschrift bekräftigt das Ausrufezeichen. Wenn der deutsche Bürgermeister sich allerdings in einer dialogischen Situation mit seinem Partner befindet, sieht er, während er so redet, einige Runzeln auf der Stirn seines Partners. Er formuliert daher im zweiten Versuch ein wenig anders. „Angesichts veränderter Umstände kann ich die Partnerschaft nicht wie zuvor fortsetzen. Ich möchte sie nicht abbrechen. Ich weiß noch nicht, was möglich ist. Können wir darüber beraten, wie es weitergehen könnte?“ Er stellt also eine Frage und hält damit die Beziehung in Gang, um etwas zu erfahren, was er anders nicht erfahren kann. Falls der Partner darauf eingeht, fährt er vielleicht fort: „Wie denken sie über diese oder jene Idee?“ Und vielleicht gibt es wieder ein Stirnrunzeln, das dann zu einer neuen Runde des Überlegens führt.
2. Dialog ermöglicht Menschlichkeit
Wie wird ein Wesen zu einem Menschen? Der Religions- und Sozialphilosoph Martin Buber antwortet: In der Begegnung. Indem die Beziehung zum anderen bewusst wird, entsteht ein Ich. „Ich und Du“, so auch der Titel seiner 1923 entstandenen Schrift, diese Partner brauchen die zwischen ihnen liegende Differenz, um das zu werden, was sie verbindet – Menschsein.
- Der deutsche Bürgermeister zum Beispiel braucht vielleicht nicht den linientreuen russischen Partner. Und dieser braucht vielleicht nicht den deutschen Bürgermeister, der ein Statement gegen den Angriffskrieg Russlands abgibt. Aber beide brauchen vielleicht den Menschen in den Vertretern des Partnerlandes, wenn sie weiterhin in Verbindung bleiben und kooperieren wollen. Beide wollen selbst nicht nur als Repräsentanten, sie wollen auch als Menschen wahrgenommen werden. Und wahrscheinlich ist dieser Mensch nicht ohne das zu haben, was deutsche und russische Partner jeweils an ihrem Gegenüber nicht mögen.
Im Dialog begegnen sich Menschen mit ihren unterschiedlichen Stärken, Schwächen, Interessen und Perspektiven und trotz asymmetrischer Machtverteilung immer als Gleiche. Nach Buber ist dies möglich, weil sie sich in eine Beziehung begeben, die einen Zwischenraum bildet. In diesem sind nun allerdings nicht nur die beiden Partner anwesend. Dort ist – theologisch formuliert – auch Gott anwesend. Folgt man Buber, dann hat ein Dialog ein spirituelles Element. In meiner Übersetzung bedeutet das: Wir können nicht alles verstehen, planen, voraussehen und festlegen, was in diesem Zwischenraum passiert. Und wir können es auch nicht vollständig kontrollieren. Wir müssen darauf vertrauen, dass es fruchtbarer ist, einander als Menschen zu begegnen, als sich wegen der Differenzen aus dem Weg zu gehen. Die historische Forschung hat
inzwischen viele Belege für die Wirksamkeit einer solchen humanen Orientierung in den Zwischenräumen der Begegnung gefunden.
- So war das von französischen Christen initiierte gemeinsame Gebet mit deutschen Katholiken einer der Ausgangspunkte der deutsch-französischen und später deutsch-polnischen Versöhnungsarbeit. (Jens Oboth, Pax Christi Deutschland im kalten Krieg 1945 -1957, 2017). Aus Verhandlungen mit nicht-staatlichen Gewaltakteuren, weiß man, dass am Anfang immer eine Einigung auf das Ziel steht, Menschenleben zu schonen. (Jonathan Powell, Talking to Terrorists: How to End Armed Conflicts, 2015). Ähnlich erzielte der damalige US-Präsident Jimmy Carter 1978 erst dann ein Vermittlungsergebnis zwischen den israelischen und ägyptischen Regierungschefs Begin und Sadat, als er um ein Foto für die Enkelkinder bat. (Jimmy Carter, Keeping Faith: Memories of a President, 1995)
3. Im Dialog entsteht etwas Neues
Man muss nicht Theologe sein, um den von Buber gesehenen „Zwischenraum“ wahrzunehmen und ihn zu beleben. Auf ihn bauen auch Naturwissenschaftler:innen, die beherzigen, dass ihr Verständnis von der Welt begrenzt ist. Zu ihnen gehört der Quantenphysiker David Bohm. In seinem Buch „Der Dialog“ (2005) wirft er die Frage auf: Wie entstehen neue Gedanken, Überlegungen also, an die zuvor keiner gedacht hat? Als Physiker sieht Bohm die Welt der Atome und Subatome als ein Netz miteinander verwobener Energieprozesse. So argumentiert er: Im Hin und Her dialogischer Kommunikation fließt Energie. Die Teilnehmer:innen erfahren den Unterschied zwischen dem, was sie sagen wollten, und dem, was der andere verstanden hat. Wenn sie nun über diesen Unterschied nachdenken, wird das Erkennen von etwas Neuem möglich, das sowohl für die eigene Sichtweise wie auch für die Sichtweise der Partner relevant ist. Im Hin und Her entstehen ständig neue Inhalte, die den Partnern gemeinsam sind. Sie schaffen zusammen etwas Neues. Diese Erfahrung und das gemeinsame Produkt verbindet sie auf neue Weise.
- Begriffe wie Konflikt, Demokratie oder Gedenken haben in Deutschland und Russland unterschiedliche Wertigkeiten. In Deutschland lernen Schüler:innen Konflikte als Chance zu begreifen und Demokratie als „Regieren durch das und für das Volk“ zu definieren. Auch lernen sie erfahrungsnah im Umgang mit Konflikten und demokratischen Verfahrensweisen zu analysieren, was davon in Deutschland gut, was weniger gut funktioniert und woran das liegen könnte. Sie können aber nicht nachvollziehen, was davon in Russland geht oder nicht geht. Wenn sie nun ihr eigenes Bild mit den Erfahrungen von Schüler:innen in Russland abgleichen, erweitern sich ihre Vorstellungen von den Begriffen Konflikt und Demokratie um neue landesspezifische Bedingungen. Solche Erweiterungen begünstigen universales Denken mit Bodenhaftung.
Ein anderes Beispiel, mit dem es im Deutsch-Russischen Forum viel Erfahrung gibt, ist die Erinnerungsarbeit an Krieg und Gewalt. In einem dialogischen Projekt sehen sich Teilnehmer:innen mit oft fremd anmutenden Formen des Gedenkens konfrontiert. Sie nehmen diese Fremdheit mit Respekt wahr. Zugleich suchen sie nach Möglichkeiten, an die Opfer von Gewalt in einer Weise zu erinnern, die etwas von dem enthält, das beiden Gruppen wichtig ist und die zugleich darüber hinausgeht, weil es weniger leicht für Rechtfertigungserzählungen benutzt werden
kann. Für Deutschland hat der Historiker Gerd Krumeich in seinem Buch „Als Hitler den I. Weltkrieg gewann“ ( 2024) gezeigt, wie eine bewusste Politik der Nationalsozialisten, Gedenksteine für die Gefallenen zu setzen einerseits, und das Versäumnis der demokratisch orientierten Kräfte, andere Formen der Trauerarbeit zu finden andererseits, die Bereitschaft mental vorbereitete, sich auf einen neuen Krieg einzulassen. Solche Instrumentalisierungen können vermieden werden. Das wäre der Fall, wenn etwa das Gedenken mit Überlegungen verbunden wird, wie
man Krieg und Gewalt vorbeugen kann und muss, damit nicht weiteres Leid geschieht. Vielleicht würden Schüler:innen zu diesem Zweck Gedenksteine in Russland und in Deutschland fotografieren sowie einander mitteilen, was diese in ihnen hervorrufen. Und sie würden Vorstellungen darüber erarbeiten, was sie ändern und hinzufügen möchten – sei es eine Zeile aus der Bergpredigt oder aus der Erklärung zum Recht auf Frieden, das seit 2016 Teil des Menschenrechtskanons der Vereinten Nationen ist. In Deutschland zumindest könnten auch diejenigen zur Teilhabe eingeladen werden, die vor Krieg und Gewalt im globalen Süden als Geflüchtete hierhergekommen sind. Bilaterales Gedenken wäre dann multilateral und zeitgemäß um eine globale und menschenrechtliche Perspektive erweitert.
4. Dialog ist nützlich zur Problemlösung
Der US-amerikanische Unternehmensberater William Isaacs denkt pragmatisch. In seinem Buch „Dialog als Kunst, zusammen zu denken: die neue Kommunikationskultur in Organisationen“ (2002), interessiert ihn: Wie entstehen neue Gedanken, die zugleich auch nützlich sind? Seine Antwort: Menschen mit unterschiedlichen Ansichten über Gesellschaft, Wirtschaft und Politik brauchen Dialog, um ein gemeinsames Verständnis des Problems zu erarbeiten, bevor sie es lösen können. Das ist nicht zuletzt eine Frage der Themenwahl. Themen müssen für die Teilnehmer:innen zugänglich sein.
- Lebensnahe Themen für deutsch-russische Partner ergeben sich etwa aus alltäglichen Erfahrungen von häuslicher Gewalt, Drogenkonsum, Bildung, KI oder Müll. Die UN-Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung und die Umsetzungsprogramme für Kommunen, Unternehmen und Schulen enthalten Anregungen zu Hauf. Es geht um konfliktgeladene Probleme. Ihre Lösung erfordert breite zivilgesellschaftliche Teilhabe. Viel kann auf lokaler Ebene sichtbar umgesetzt werden, wenn Kreativität und ebenenübergreifende Aushandlungsprozesse am Ort zusammentreffen. Auch die global ausgerichtete junge Generation könnte interessiert sein, auf diese Weise etwas Neues zu entwickeln.
5. Im Dialog verändern sich Konfliktkonstellationen
Wie können Konfliktparteien einander gegenseitig darin unterstützen, die Blockaden ihrer Denkweisen und Positionen zu überwinden? „Durch Perspektivenwechsel“ lautet die Antwort der Pädagog:innen Martina, Johannes und Tobias Hartkemeyer in ihrem Buch „Dialogische Intelligenz. Aus dem Käfig des Gedachten in den Kosmos gemeinsamen Denkens“ (2016): Wenn Teilnehmer:innen versuchsweise in die Rollen ihrer Partner schlüpfen, erfahren sie, wie ihre eigenen Ziele, Haltungen und ihr Verhalten von den anderen wahrgenommen werden. So kommen sie zu Einschätzungen, die informierter, realistischer und zukunftstauglicher sind als ihre anfangs gehegten Ansichten über sich selbst und die Welt. Wenn alle sich darum bemühen, die Besorgnis der anderen in das jeweils eigene Bild aufzunehmen, können weiter unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Neu ist dann: Alle Beteiligten verstehen genug von den berechtigten Anliegen der anderen, um sich ihnen gegenüber auf neue Weise zu verhalten, Teilprobleme zu identifizieren und diese mit gemeinsam verantworteten Entscheidungen zu regeln.
- Jenseits von „Küchengesprächen“ kann man heute in Russland über den Krieg gegen die Ukraine nur sehr eingeschränkt miteinander sprechen. Anders ist die Situation in Deutschland. Hier muss man über diesen Krieg sprechen. Hier stellt sich nicht die Frage ob, sondern wie man über den Krieg miteinander so sprechen kann, ohne – in den Worten von Tolstoi – den Krieg in die Herzen zu tragen. Denn hier leben Menschen sowjetischer und post-sowjetischer Herkunft, die sich um Angehörige sorgen und die Kontakt halten möchten. Sie leben in einer Umwelt, die zurecht mit Empörung über den Krieg gegen die Ukraine gesättigt ist, während die Kriege, den viele Migrant:innen entflohen sind, weit weniger beachtet werden. In Schulen ist das Beschweigen des Krieges gegen die Ukraine gar keine Option. Denn hier geraten Schüler:innen über diesen Krieg miteinander in Konflikt. Und sie tragen ihren Konflikt teils gewalttätig aus. Schulen müssen daher akut Wege finden, die Schulgemeinschaft einschließlich der Eltern miteinander ins Gespräch zu bringen. Dazu brauchen sie meist mediative Verfahren. Diese führen über unterschiedliche Formen des Perspektivenwechsels zu Verabredungen, die auch eingehalten werden können, weil sie für alle von Vorteil sind. In der Friedenspädagogik sind diese Verfahren heute grundlegend, wie Uli Jäger in seinem Aufsatz „Zeitenwende? Anregungen für eine Friedenspädagogik in Zeiten des Krieges“ (2023) knapp ausgeführt hat.
Zusammengefasst: Würde ich heute nach Unterschieden zwischen Dialog und Gequatsche gefragt, wäre meine Antwort etwa so: Zweck und Wirkungsweise von Dialogen bestehen darin, dass die Beteiligten in der Begegnung 1. artikulationsfähiger, 2. menschenfreundlicher, 3. kreativer werden, 4. ein gemeinsames Verständnis eines Problems zu dessen Lösung entwickeln und 5. sich dabei unterstützen, lösbare Teilprobleme zu identifizieren. Im Dialog verändern sich folglich die Teilnehmer:innen, ihre Ziele, ihre Ansichten und ihre Verhaltensweisen. Anders formuliert: Wir brauchen Dialoge in Hülle und Fülle, um aus Sprachlosigkeit, Verfeindung, Einfallslosigkeit, Problemlösungsunfähigkeit und Gewalttätigkeit herauszufinden. Auf dem Weg zum Dialog kann auch Small Talk nicht schaden, und man muss auch nicht unbedingt nur
reden. Man kann auch tanzen und musizieren. Aber man muss sich einander in dialogischer Absicht zuwenden. Dass dies möglich ist, lässt sich beeinflussen. Denn wir kennen Bedingungen für erfolgreiche Dialoge.
6. Dialog braucht Arrangements
Dialogisches Verhalten ergibt sich selten spontan. Erforderlich sind Teilnehmer:innen, die ein dialogisches Vorgehen im Bewusstsein der Schwierigkeiten anstreben und sich darauf vorbereiten. In Zeiten politischer Konfrontation fürchten sich Menschen davor, sich mit den Leuten aus dem anderen Lager gemein zu machen, anzunehmen, dass es ein „Wir“ mit ihnen geben kann und diese Haltung in der eigenen Bezugsgruppe rechtfertigen zu müssen. Vielleicht sorgen sie sich auch darum, aus der bevorstehenden Begegnung selbst verändert hervorzugehen, obwohl sie doch nur wollen, dass die anderen sich ändern. Dialogarbeit mutet allen, die an einer Konfliktformation beteiligt sind einiges zu. Und es ist sowohl Wissen als auch soziale Ermutigung erforderlich, um sich auf solche Zumutungen einzulassen. Sorgfältige Vorbereitung hilft. Notwendig sind ferner Rückzugs- und Reflexionsmöglichkeiten.
Notwendig ist auch eine lebensfreundliche Gestaltung von Räumen, in denen Teilnehmer:innen sich motiviert und sicher genug wissen, über das zu sprechen, worüber sie sprechen wollen. In vielen Fällen werden begleitende Teams gebraucht. In den Vereinten Nationen spricht man von „Guten Diensten“.
7. Dialog braucht vereinbarte Regeln
Dass man einander ausreden lässt, ist geläufig. Andere Regeln sind schwieriger einzuhalten. Das gilt für die Regel, darauf zu verzichten, über das Gehörte oder über die sprechende Person bewertende Kommentare abzugeben sowie für die Regel danach zu suchen, was die Partner verbindet und es zu benennen. Beide Regeln verlangen von den Teilnehmer:innen, aus einer gewohnten Debattenkultur aussteigen, in der es darum geht, die eigene Position gegen alle Einwände möglichst scharf zu verteidigen.
Noch schwieriger wird es mit der Regel, Dialogarbeit für alle zu öffnen, die Teil einer Konfliktformation sind. Konflikte, in denen nur zwei Seiten beteiligt sind, gibt es in der Wirklichkeit nur selten. Selbst in einem Ehekonflikt reden Kinder, Nachbarn oder Freunde vielstimmig mit und dazwischen. Ein bilateraler deutsch-russischer Dialog findet heute unter Bedingungen multilateraler Verflechtung statt. Er wird von vielen Seiten – gerade auch in Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und der NATO – misstrauisch beäugt. Das wird als Störung erlebt.
Erfahrungsgemäß ist es fruchtbar, den Dialog für Störendes zu öffnen. Das hieße zum Beispiel deutsch-russische Dialoge um Teilnehmer:innen aus anderen Ländern zu erweitern, ihn also zu europäisieren. Man kann auch einzelne Teilnehmer:innen bitten, das Geschehen mit den Ohren nicht anwesender Akteure wahrzunehmen und zu spiegeln. Es gibt viele Formen, dieser Regel gerecht zu werden und doch wird sie häufig zum Schaden für den Dialogprozess übersehen.
8. Dialog braucht Kommunikationskompetenz.
Die Ansprüche wachsen mit der Vielschichtigkeit von Problemlagen. Das bedeutet Übung. Der französische Philosoph Edgar Morin nennt diese Übungen in seiner jüngsten Schrift „Von Krieg zu Krieg: Von 1940 bis zur Invasion der Ukraine“ (2023) Denk-Gymnastik. Weil Friedensstiftung heute nicht nur kluge Diplomat:innen, sondern auch die Beteiligung von sozialen und wirtschaftlichen Gruppen erfordert, damit politisch und gesellschaftlich umsetzbare Lösungen gefunden werden, brauchen diese neuen „Mitstreiter:innen“ eine Ausbildung, die sie zum Dialog befähigt. Es gibt dazu heute eine Fülle von mehrsprachigen Trainingsangeboten für schulische, außerschulische oder innerbetriebliche Bildungsarbeit. Kommunikationskompetenz erhöht sich, wenn Menschen durch schulische, außerschulische oder innerbetriebliche
Bildungsarbeit im eigenen Milieu, aber auch grenzüberschreitend, solche Fähigkeiten erlernen und Gelegenheiten haben, sie einzusetzen. Mich hat beeindruckt zu hören, dass eine Friedensgruppe in Kroatien Bürgermeister:innen und Vertreter:innen der kommunalen Verwaltung zu solchen Formen der Denkgymnastik eingeladen hat – und noch mehr – dass diese auch gekommen sind.
Schlussbemerkung
Kein Mensch kann den Bedingungen des idealen Dialogs in jeder Situation vollkommen gerecht werden. Auch wenn es nicht vollständig gelingt, wirkt allein das Bemühen konstruktiv. Wenn auf Regierungsebene fast gar nichts mehr geht, lässt sich auf der lokalen Ebene oft etwas erreichen. Das sind jedenfalls die Erfahrungen der Vereinten Nationen und zivilgesellschaftlicher Projektarbeit im globalen Süden. Ich sehe keinen Grund, diese Erfahrungen nicht auch in den deutsch-russischen Beziehungen zu nutzen.
Dialog ist weder eine Belohnung für Wohlverhalten noch eine Form von Beschwichtigung, Resignation oder Tatenlosigkeit. Dass sich Denk- und Kooperationsräume ausbreiten, ist das A&O. Dialogische Vorgehensweisen sind wirksam und nützlich. Sie werden innergesellschaftlich und auch zwischen Staaten und Gesellschaften mit unterschiedlicher Macht- und Herrschaftsausübung praktiziert. Es gibt viele, allerdings noch wenig analysierte Erfahrungen. Immer geht es um Formate, die auf die jeweils Konfliktbeteiligten, ihre Themen, Interessen und Bedarfe abgestimmt werden und die es den Beteiligten ermöglichen, so miteinander ins Gespräch zu kommen, dass sie Schritte zur Veränderung der Konfliktkonstellation gehen können. Gerade im Fall eskalierter Konflikte ist es unklug, Dialogbemühungen aufzugeben, auch wenn sie nur selten gradlinig zum Erfolg führen. Alle beinhalten immer das Risiko, zunächst vergeblich zu sein. Aber das größere Risiko ist, keinen Dialog zu wagen. Ich schließe daher mit einem Zitat der Autorin Natalja Klutscharjowa, die jetzt in Berlin lebt und 2003 hier ihr „Tagebuch vom Ende der Welt“ veröffentlicht hat: Das Wichtigste, das man jetzt tun kann, schreibt sie, ist es „Verbindungen von Mensch zu Mensch knüpfen, wie ein dünnes Sicherheitsnetz über dem Abgrund“.
Vortrag „Frieden wagen. Wie Dialogarbeit funktioniert.“ im Pdf-Format.
Zur Autorin
Prof. Dr. Hanne-Margret Birckenbach wurde in Politikwissenschaft promoviert und habilitierte in Soziologie mit dem Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung. Sie ist ausgebildete Mediatorin. Birckenbach arbeitete u.a. am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik. Sie ist Trägerin des Göttinger Friedenspreises 2023. Im März 2024 war Sie Gastrednerin anlässlich einer Abendveranstaltung des Deutsch-Russischen Forums e.V. und zeigte in Ihrem Vortrag zum Thema „Frieden wagen. Wie Dialogarbeit funktioniert.“ Ansätze eines funktionioerenden Friedensdialogs auf.