Das Deutsch-Russische Forum e.V brachte in Kooperation mit der Gortschakow-Stiftung für Öffentliche Diplomatie am 6. April 2016 eine Delegation deutscher Bundestagsabgeordneter in die russische Staatsduma, um vertrauensbildende Maßnahmen zu besprechen.
An gegenseitiger Kritik wurde nicht gespart, die Teilnehmer nutzten das offene, ehrliche Wort. Doch der russische Parlamentsvorsitzende Sergej Naryschkin schlug am Ende vor, eine bilaterale Arbeitsgruppe für die Ausarbeitung eines „politischen Lexikons“ zu gründen. In den politischen Debatten sind viele Missverständnisse entstanden. Ein und derselbe Sachverhalt oder politische Begriff hat in dem jeweils anderen Land eine andere Bedeutung.
Manche Metaphern, Aussagen, Anekdoten, die ein russischer Politiker gebraucht, klingen schrill und befremdlich in den Ohren eines Deutschen. Die russischen Zuhörer können wiederum aufgrund eigener historischer Traditionen mit der political correctness deutscher Politiker und Politologen wenig anfangen. Politiker und Experten aus beiden Ländern sollen nun die Unterschiede in den Begriffen herausstellen und dann versuchen, einen gemeinsamen Nenner für die Begriffe festzuschreiben – in Form eines „politischen Lexikons“. Ein „gemeinsames Wörterbuch“ wird aus der Arbeitsgruppe nicht entstehen, zu unterschiedlich sind die sogenannten Narrative in Russland und Deutschland bezüglich der aktuellen politischen Ereignisse. Aber eine Sensibilität für die Denkweise und Begrifflichkeit des Gegenübers kann durchaus entwickelt werden. Dies ist ein entscheidender Punkt, damit Kommunikation und Verständigung gelingen.
Beispielsweise ergibt in Deutschland und Russland der Begriff Zivilgesellschaft einen unterschiedlichen Sinn. Wenn Deutschland sagt, es müsse die Zivilgesellschaft in Russland unterstützen, hegt Russland den Verdacht, der Westen wolle eine orangene Revolution in Russland durchführen. In Deutschland wird die Pegida-Bewegung nicht als Teil der Zivilgesellschaft betrachtet, in Russland ist die Bürgergesellschaft jedoch stark national geprägt.
Ein anderes Beispiel ist die Pariser Charta von 1990, die die Friedensordnung in Europa nach dem Kalten Krieg festschrieb. Für den Westen ist sie das Fundament eines freien Europas, für Russland eher ein Abkommen zur europäischen Sicherheit. Diskutiert soll auch über Begriffe wie Mittelstand, Modernisierungspartnerschaft, Perestroika, Menschenrechte, Vergangenheitsbewältigung. Die Russen lehnen eine Vergangenheitsbewältigung nach deutschem Vorbild wie nach 1945 ab.
Nachmittags wurde in der Gortschakow-Stiftung für Öffentliche Diplomatie die Debatte fortgesetzt. Gerade was die Menschenrechte anbetrifft, herrschen auf beiden Seiten unterschiedliche Auffassungen. Die Russen fragten, warum Bundeskanzlerin Angela Merkel den Schmähsong der Gruppe Pussy Riot auf den russischen Präsidenten als Freiheit der Kunst bezeichnete, das Schmähgedicht von Jan Böhmermann auf den türkischen Präsidenten jedoch als geschmacklos verurteilte. Warum wird Böhmermann in Deutschland vor Gericht gestellt, die Pussy Riot Aktivistinnen dagegen im Westen auf Händen getragen? Wird hier mit zweierlei politischem Maß gemessen, oder herrscht im Fall der Türkei eine besondere Staatsräson vor, die über den Werten steht?
Weiterführend: Interview mit Matthias Platzeck mit der Deutschen Welle (6. April 2016).